Poppenspael
Zeit
hatte er ununterbrochen an dem eiförmigen Stoffgesicht seiner
Klappmaulpuppe modelliert, ihr eine hohe Stirn und wirr abstehende
Haare verpasst und zum Schluss die runde Brille und die gepunktete
Fliege angebracht. Danach sah die Figur Erwin Schrödinger
erstaunlich ähnlich, diesem verschmitzten Physiker mit dem
naiven Gesichtsausdruck, der 1926 mit einer Gleichung berühmt
wurde, die noch heute das wissenschaftliche Fundament für die
meisten praktischen Anwendungen der Quantenmechanik
bildet.
Wie von selbst beginnt
Bender mit gedämpfter Stimme den Eröffnungstext aus
seinem Stück ›Schrödingers Katze‹ vor sich
hin zu sprechen.
»Darf ich mich
kurz vorstellen? Mein Name ist Schrödinger, Erwin
Schrödinger, von Beruf Physiker! Wäre es zu anspruchsvoll
von mir, bei Ihnen ein gewisses Interesse für meine Weltsicht
vorauszusetzen? Sie ist nicht umfangreich! Ich habe die Wörter
selbst ausgezählt, es sind im Ganzen höchstens 28- bis
29.000 Stück. Nicht übertrieben viel für eine
Weltsicht, oder?«
Das muss viel
enthusiastischer klingen, verbessert ihn seine innere Stimme. Du
willst deinem Publikum einen ziemlich unbekannten Wissenschaftler
rüberbringen. Wenn du die Leute nicht gleich am Anfang packst,
werden die spätestens, wenn du mit der Quantenphysik loslegst,
fluchtartig den Saal verlassen.
Seine
Überlegungen reißen jäh ab, als ein
mittelgroßer Mann ihn überholt und auf einen Waggon der
ersten Klasse zusteuert. Etwas sagt ihm, dass er ihn von
irgendwoher kennt. Der Name liegt ihm auf der Zunge, doch er will
ihm nicht einfallen. Der Mann wirkt älter, als er ihn in
Erinnerung hat, und trägt einen eleganten, anthrazitgrauen
Anzug mit blaugrauer Krawatte. Sein leicht untersetzter
Körperbau, die kurzgeschnittenen weißen Haare und die
tiefliegenden Augen verleihen ihm das Aussehen eines unnahbaren
Menschen. Trotz seiner sportlichen Statur versucht er vergeblich,
die Waggontür zu öffnen.
»Kann ich
helfen?«, fragt Bender, nimmt seinen Koffer in die linke Hand
und drückt mit der anderen Handfläche den runden Knauf
hinunter. Die Tür springt auf.
»Danke«,
murmelt der Mann, ohne seinen Helfer eines Blickes zu
würdigen, und verschwindet im Zuginneren.
Der nächste
Waggon ist einer der zweiten Klasse, Nichtraucher, und es gibt noch
leere Sitzbänke. Bender steigt ein. Unmittelbar neben der
Schiebetür findet er einen freien Fensterplatz in
Fahrtrichtung. Er lehnt sich entspannt zurück.
Mit einem Ruck kommt
die Welt ins Rollen, zieht erst langsam und dann immer schneller an
seinem Fenster vorbei. Ohne weiter daran gedacht zu haben, ist ihm
plötzlich klar, wer dieser Mann gerade war und woher er ihn
kennt.
Wiktor Šemik,
das war doch Wiktor Šemik.
Jetzt ist die
Erinnerung wieder präsent. Bender hat sogar die erste
Aufführung dieses Mannes wieder vor Augen. Nun weiß er
auch, warum er so schwer zu erkennen war. Sein Aussehen hat sich
ziemlich verändert, damals trug er noch schulterlange,
brünette Haare. Das war in Aachen gewesen, vor vielen Jahren,
als Wiktor Šemik gerade sein
Schnipp-Schnappmaul-Puppentheater eröffnet hatte.
Wie hieß noch
gleich sein berühmtes Stück?
Er zermartert sich den
Kopf, sieht gleichzeitig eine große Handpuppe mit grauem
Gesicht, grauem Anzug und grauem Hut über die Bühne
hasten.
Ach ja, der Mann mit
der Aktentasche. Alle Kritiker waren voll des Lobes, sprachen von
einer genialen Parabel.
Mit der Figur eines
introvertierten Spießers, der sich, nur mit seiner
Aktentasche bewaffnet, den Weg durchs Leben bahnt, ist Wictor
Šemik ein erschreckendes Abbild des deutschen
Bürokraten gelungen. Mit dieser Darstellung ist das
Figurentheater in eine neue Dimension geführt worden, stand
damals im Feuilletonteil einer Zeitung. In kurzer Zeit schaffte der
Puppenspieler eine steile Karriere, die ihn weit über
Deutschlands Grenzen hinaus bekannt gemacht hatte.
Bender hat noch genau
vor Augen, wie ihm das unbeschreiblich behände Spiel von
Šemik beeindruckt hatte, wie der es verstand, sein Publikum
in den Bann zu ziehen, es nur auf seine Handpuppe blicken
ließ, obwohl er selbst leibhaftig neben ihr auf der
Bühne stand. Am Ende der Vorstellung war Bender vom
Puppenspiel besessen gewesen, wäre am liebsten sofort ein
genauso fantastischer Puppenspieler geworden. Das liegt jetzt elf
Jahre zurück.
Das Jahr ist ihm
deshalb noch so präsent, weil er zur gleichen Zeit einen Job
im Hamburger Forschungszentrum DESY angetreten hatte. Sein
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