Poppenspael
Woche sein
persönliches Arbeitszimmer werden soll, zu meditieren. Anna
hat den Raum bereits leergeräumt. Die ersten Sachen, die er
aus seiner Wohnung hierher gebracht hat, sind sein Amoghasiddhi
Buddha, die Klangschale und sein Sitzkissen. Ein spontaner
Beschluss, weil er sich in letzter Zeit häufiger hier als
daheim aufhält.
In den
Küchenschubladen sucht er nach zwei Teelichtern und
Streichhölzern. Er findet sie im Schränkchen unter der
Spüle. Während er auf der Holztreppe in den ersten Stock
steigt, denkt er an den gestrigen Abend in der Heider Markthalle.
In der buddhistischen Ausstellung wurde eine Vielfalt von
Ausstellungsstücken gezeigt, die er in einer Kleinstadt nicht
erwartet hatte. In den Glasvitrinen standen unzählige Figuren
von Bodhisattvas, Buddhas, daneben lagen kostbare
Ritualgeräte, an den Wänden hingen bunte Gebetsfahnen,
gemalte Mandalas und bestickte Seiden-Thanghas. Swensen wurde von
der Atmosphäre mitgerissen und stellte fest, dass die Exponate
noch immer eine Faszination auf ihn ausübten.
Während seiner
Studienzeit, vor über 30 Jahren, war ihm einmal zufällig
der Bildband ›Kunstwerke aus tibetischen
Klöstern‹ in die Hände gefallen. Die Abbildungen
der feuervergoldeten Buddhafiguren, die eine seltsame Gelassenheit
und Ruhe ausstrahlten, hatten damals den Anstoß gegeben, sein
fast magisches Interesse für die buddhistische Lehre
wachzurufen.
Schon im ersten
Moment, als er den Ausstellungsraum betrat, war Swensen ein
besonders großer, auf einem Lotos sitzender Buddha ins Auge
gesprungen. Er stand im Zentrum des Raums auf einem Holzsockel und
strahlte golden. Hinter der Scheitelerhebung seines Kopfes reckten
sich mehrere Schlangen. Bei näherer Betrachtung wurde Swensen
klar, dass es sich um eine Darstellung von Nãgãrjuna
handeln musste, und das Schildchen unter der Figur bestätigte
seine Vermutung. Dort stand geschrieben: Nãgãrjuna,
bedeutender buddhistischer Denker, lebte um 300 n. Chr. in
Indien.
»Die Figur musst
du dir unbedingt ansehen«, hatte er Anna begeistert
zugerufen, obwohl sie bereits einen leicht ermüdeten Eindruck
machte. »Das ist die Abbildung Nãgãrjunas! Der
hat mit seinen Lehren den Grundstein für den
Mahãyãna-Buddhismus gelegt. Das ist die Lehrrichtung,
die auch Lama Rinpoche in der Schweiz gelehrt
hat.«
»Der sieht aus
wie eine Medusa«, meinte Anna trocken. »Der Kopf ist
voller Schlangen.«
»Der hat aber
mit griechischer Mythologie nichts zu tun. Die Schlangen
gehören zu der Legende, dass Nãgãrjuna sein
außergewöhnliches Wissen von einer Schlange erhalten
haben soll. Das erklärt auch seinen Namen, in der
Übersetzung heißt Nãgãrjuna nämlich
soviel wie weiße Schlange. Die Inder verbinden die Weisheit
mit der Schlange, nãga, und die Reinheit mit der Farbe
Weiß, arjuna. »Jan Swensen«, stoppte Anna und
verdrehte auffällig die Augen, »wieso bist du eigentlich
Kriminalpolizist und kein buddhistischer Heiliger
geworden?«
»Nun ja, bei den
Heiligen waren schon alle freien Stellen besetzt!«
Die Teelichter
flackern zu beiden Seiten der Buddha-Figur. Swensen hat ein Fenster
geöffnet und eine frische Brise weht von außen herein,
während er auf seinem Meditationskissen Platz nimmt. Ein
Schlag gegen das Messing der Klangschale erzeugt einen hellen Ton,
der vibrierend durch den Raum schwingt. Er kann ihn mit seiner Haut
spüren, legt die geöffneten Hände aufeinander und
lässt beide Daumen aneinander stoßen.
Konzentriere dich auf
deinen Atem.
Einatmen,
Ausatmen.
Er stellt fest, dass
die Gedanken seine Anweisungen wiederholen, anstatt in den
Hintergrund zu treten. Er muss grinsen. Wie geschickt das Denken
seinem ICH den roten Teppich ausrollt, damit er willenlos darauf
herumstolzieren kann.
Noch mal! Mach den
Kopf frei!
Einatmen.
Ausatmen.
»Auf einem Sitz
aus Lotosblüte, Sonne und Mond weilt der erhabene Chenrezig,
der große Buddha des Mitgefühls.«
Gedanken haben eine
ungeahnte Kraft. Sie verhindern das scheinbar Einfachste der Welt:
an nichts zu denken. Der gestrige Abend schüttet sein
Füllhorn mit Erinnerungen und Bildern in dem Versuch, seinen
Kopf leer zu halten. Swensen sieht einen Mann, der alle Personen
aus dem Ausstellungsraum zu einer gemeinsamen Meditation in den
Theatersaal nebenan bittet. Seine Stimme rezitiert den Text einer
Visualisierung. Mit den Worten sollen die Besucher die Gestalt des
Chenrezig vor ihren inneren Augen erscheinen lassen.
»In meinem
Herzen weilt Chenrezig, das
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