Poppenspael
Weisheitswesen. Er ist umgeben von
einer Aura aus fünf Farben. Hinter seinem Kopf strahlt
farbiges leuchtendes Licht in alle Richtungen aus. An der Stirn des
Meisters ist ein weißes OM.«
Anna und Swensen waren
dem Mann in den Theatersaal gefolgt. Der Berufsschullehrer aus
Heide hielt dort einen Vortrag über den
Mahãyãna-Buddhismus. Der unscheinbare Mann, der
verloren auf einem Stuhl auf der großen Bühne saß,
erzählte der kleinen Gruppe von Zuhörern, dass er
Schüler in dem buddhistischen Zentrum auf Eiderstedt wäre
und am Ende für alle Fragen zur Verfügung
stehe.
Nach einiger Zeit
beschlich Swensen ein ungutes Gefühl. Für ihn fehlte die
Substanz, alles wirkte wie auswendig gelernt. Als ein Zuhörer
die Frage stellte, ob die Menschen in Afrika für ihre Armut
auch selbst verantwortlich wären, bekam er die Antwort: Das
ist eben ihr Karma!
Das ist doch Quatsch,
hatte Swensen innerlich gemurrt. Karma ist nicht die Bezeichnung
für Schicksal. Karma ist eigenes, von Willen und Absicht
getragenes Tun. Die Bedeutung von Ursache und Wirkung will nur
besagen, dass vergangene Taten, Worte und Gedanken unsere heutige
Welt geformt haben. Er hatte sich gefragt, ob ein ahnungsloser
Zuhörer die laienhaften Ausführungen nicht falsch
verstehen müsste. Die Anleitung zur Visualisierung des
Chenrezig war für
die Mehrheit im Saal vermutlich auch eine glatte
Überforderung.
Welcher
normalsterbliche Norddeutsche kann sich aus dem Stegreif eine
vierarmige Meditationsgottheit in der Geste des Dharma-Lehrenden
vorstellen.
Swensen öffnet
die Augen. Er greift den Holzklöppel, schlägt dreimal
gegen die Klangschale und verbeugt sich mit aneinander gelegten
Händen. Ungehalten nimmt er zu Kenntnis, dass die Gedanken ihn
während der gesamten Sitzung wieder fest im Griff hatten. Mit
angefeuchteter Zeigefinger- und Daumenspitze löscht er die
Teelichter. Als er die Treppe hinuntersteigt, hört er in der
Küche das Geräusch der Kaffeemühle.
Anna ist
aufgestanden.
*
Die Kaffeemaschine
röchelt in den letzten Zügen. Anna Diete greift nach
einem Keramikbecher auf dem Küchenbord und holt die Milch aus
dem Kühlschrank. Während sie die Kühlschranktür
schließt, bleibt sie mit ihrer Aufmerksamkeit an dem
gerahmten Foto der Twin Towers hängen, das in Augenhöhe
an der Wand hängt. Das Bild hängt schon mehrere Jahre
hier in der Küche, wurde mit der Zeit immer weniger
wahrgenommen und ist plötzlich wieder präsent. Sie steht
darauf genau in der Lücke zwischen den beiden
Zwillingstürmen. Jan hatte es 1997 mit ihrer Kamera auf der
Brooklyn Bridge fotografiert. Die einwöchige Reise nach New
York war ein Geburtstagsgeschenk zu seinem 50. gewesen. Ihr kommt
das letzte Jahr in den Sinn, als die Meldung vom 11. September in
den gemeinsamen Türkeiurlaub platzte. Irgendetwas von dem
damaligen Entsetzen scheint schon in dem Foto zu stecken. Der Tod
lauerte bereits hinter der heilen Welt und versetzt ihren guten
Erinnerungen an New York im Nachhinein einen tiefen
Riss.
Möglicherweise
hilft nur, noch einmal dahin zu reisen, um wirklich zu glauben,
dass die Türme nicht mehr stehen, überlegt sie und ist
beunruhigt von dem gerade stattfindenden Säbelrasseln des
George Bush, der seit dem 11. September ununterbrochen auf
Rachefeldzug ist und das vollenden möchte, was sein Vater
nicht geschafft hat, – das Saddam-Regime zu
stürzen.
Der kleine Junge
möchte dem Papa endlich beweisen, dass er erwachsen geworden
ist.
Anna kramt in den
Schubladen vom Küchenschrank nach Jans Grünem Tee, findet
ihn aber nicht. So früh am Morgen ist ihre Konzentration
meistens noch getrübt. Sie braucht ihren Schlaf, hat vor 10
Uhr nur selten den normalen Wachheitszustand erreicht.
»Moin,
Moin!«
Anna Diete zuckt
zusammen. »Mein Gott, Jan, hast du mich erschreckt«,
sagt sie und zieht den Gürtel von ihrem Flanellbademantel
stramm. »Ich war vorhin kurz wach und glaubte, die
Haustür gehört zu haben. Da dachte ich natürlich, du
bist rausgegangen.«
»War ich auch,
aber nur kurz beim Bäcker Brötchen und Milch holen.
Danach habe ich oben meditiert, beziehungsweise ich hab’s
probiert.«
»Ich wunderte
mich schon, wieso noch Milch im Kühlschrank
ist.«
»Und ich wundere
mich, wieso du schon in der Küche
rumgeisterst.«
»Stopp, das wird
jetzt zu viel. Ich brauch erst einen Kaffee, um richtig wach zu
werden«, stoppt Anna seinen aufkeimenden Redefluss,
gießt ihren Becher voll und geht mit wiegenden Schritten in
Richtung
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