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Poppenspael

Poppenspael

Titel: Poppenspael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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zweistündigen Spaziergang hatten sie den
Böhler Strand erreicht und waren in der Strandkiste
eingekehrt, einem der bekannten Pfahlbauten, die vor der Küste
im Watt stehen.
    Der gereizte Ton von
Anna hat Swensen an seiner empfindlichen Stelle getroffen. Er sitzt
bewegungslos auf der Holzbank und schaut ins Leere, wie ein
Schuljunge, der seine Hausaufgaben vergessen hat. Ihm ist klar,
dass seine so oft gepriesene buddhistische Achtsamkeit wieder
einmal an der Praxis gescheitert ist. Er schweigt, sie schweigt
zurück. Die Zeit dehnt sich in die Länge. Anna schaut
aufs Meer hinaus. Es ist Flut, und die Sonne lässt
Abertausende Lichtpunkte auf den Wellen tanzen.
    »Zweimal
heiße Waffeln mit Vanilleeis und Sahne!«, sagt die
Bedienung mit einem Lächeln.
    *
    Sein Hemd muffelt,
obwohl er die Achselpartie heute Morgen mit einem Deo-Stift
eingerieben hatte. Ein leichter Schweißgeruch dringt in seine
Nase, und Marcus Bender presst die Oberarme fest an seinen
Körper. Das sieht sicherlich merkwürdig aus, denkt er,
zumal er in der einen Hand auch noch einen Koffer und in der
anderen eine Tüte Croissants hält. Das zwei Tage alte
Hemd hat aber einen höheren Peinlichkeitsgrad.
    Er schlendert mitten
auf der schmalen Straße, die zum Husumer Schloss
hinaufführt, und steuert auf den Toreingang zu, der von zwei
Steinlöwen auf viereckigen Sockeln bewacht wird, das
herzogliche Wappen in ihren Pranken. Als Bender an einer der
Skulpturen vorbeikommt, kann er sich des Eindrucks nicht erwehren,
das Mähnentier würde ihn mit kritischem Blick von oben
herab beäugen und seinen Einlass verbieten, gleich dem
kafkaesken Torwächter.
    Ihm fällt dazu
spontan der Roman ›Das Schloss‹ ein, ist sich aber
auch nach längerem Grübeln nicht sicher, ob die Figur des
Torwächters nicht doch in ›Der Prozess‹
auftaucht.
    In diesem Gebäude
findet die Premiere meines neuen Lebens statt. Selbst wenn ich nach
Schweiß riechen sollte, mich haltet ihr nicht mehr auf, droht
seine innere Stimme den Löwen, und so stapft er in den leeren
Schlosshof. Dabei gibt es für ihn überhaupt keinen Grund
für überzogenen Optimismus.
    Sein Lampenfieber
hatte ihn schon vorzeitig in die graue Stadt getrieben. Er konnte
einfach nicht mehr zu Hause herumsitzen, wollte unbedingt schon bei
der Eröffnungsvorstellung mit dabei sein und etwas von dem
Flair des Festivals im Vorfeld erhaschen. Doch seit seiner Ankunft
jagt eine Hiobsbotschaft die nächste. Das Zimmer, das er
telefonisch reserviert hatte, konnte er nicht beziehen, weil die
Vermieterin plötzlich erkrankt war und ins Krankenhaus musste.
Er stand sozusagen vor verschlossenen Toren. Das Ersatzzimmer war
wesentlich teurer, als sein knappes Budget ihm erlaubte, denn das
gesamte gesparte Geld hatte er in die Produktion von
›Schrödingers Katze‹ gesteckt. Am Abend wurde er
auch noch von seinem Puppenspielerkommilitonen Bernd Eggink
angerufen, der sein Partner auf der Bühne sein würde. Der
teilte ihm mit, nicht vor Samstagnachmittag mit den Kulissenteilen
und seiner Kleidung in Husum einzutreffen. Das Zündschloss von
ihrem Wagen ist defekt und muss erst repariert werden. Das
bedeutete für Marcus Bender, so lange ohne frische Klamotten
auszukommen. Und das alles nur, weil er nicht bereit gewesen war,
seine Puppe aus der Hand zu geben und sie unbedingt selbst
mitnehmen wollte.    
    Der Puppenspieler
stellt seinen Koffer mit der Puppe zwischen die Beine, beißt
hungrig in ein Croissant und schaut nervös zur Turmuhr hinauf.
Sie zeigt auf 13.17 Uhr. Um 13.30 ist er mit Petra Ørsted
verabredet. Sie würde die Tür im seitlichen
Gebäudeflügel aufschließen, damit die Bühne
für die Abendvorstellung aufgebaut werden kann. Von Bernd, dem
Wagen und ihren Utensilien ist aber noch nichts zu sehen. Der
Puppenspieler beißt herzhaft in das zweite Croissant und geht
kauend im Schlosshof auf und ab.
    Im Grunde brauche ich
nur genügend zu essen, überlegt er spöttisch, und
ich bin schon bald nicht mehr der, der ich gerade bin.
Schließlich werden alle Atome, aus denen sich mein
Körper zusammensetzt, laufend durch neue Atome ersetzt, im
Augenblick durch die Atome des Croissants. Die Quantenmechanik hat
die physische Kontinuität für eine persönliche
Identität eindeutig widerlegt. Es stellt sich allein die
Frage: Wie viele Croissants müsste ich essen, um ein
gänzlich anderer Mensch zu werden?
    Nur sein angespannter
Zustand hält ihn davon ab, sich dieser Rechenaufgabe ernsthaft
zu widmen. Bleibt er

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