Poppenspael
doch! Das
ist der Typ aus dem Hotel, hundertprozentig«, ereifert sich
Ronja und eilt in Richtung Haupteingang. »Den schau ich mir
genau an.«
Susan bleibt ihrer
Freundin dicht auf den Fersen. Die beiden Frauen sprinten
hintereinander die knarrende Holztreppe hinauf, sehen gerade noch,
wie die Eingangstür zum Rittersaal ins Schloss fällt.
Einen Moment später schieben sie sich leise durch die
Saaltür und sehen als Erstes Petra Ørsted, die links
gegen die Wand gelehnt steht. Sie winkt die Frauen zu sich und legt
gleichzeitig ihren Zeigefinger vor den Mund. Der Redner scheint
gerade auf das Ende zuzusteuern.
»… zum
Schluss noch eins, meine Damen und Herren, alles Kulturelle ist
stark im Kommen. Das gilt ganz besonders für die
Pole-Poppenspäler-Tage. All die ehrenamtlichen Frauen vom
Förderkreis tragen dazu bei, das Puppenspiel zu einem
dynamischen Standortfaktor für die Stadt Husum zu machen. Das
Figurentheater fördert nicht nur die Region, es fördert
im weitesten Sinne auch die Wirtschaft, schafft Arbeitsplätze
und sorgt für ein kulturelles Renommee, das weit über die
Grenzen von Schleswig-Holstein reicht. Und wenn Sie jetzt glauben,
das klingt alles zu abgehoben, dann möchte ich an die Worte
des großen Dichters Heinrich von Kleist erinnern. Der sagte
in seinem bekannten Text ݆ber das
Marionettentheater‹ folgenden Satz: Die Puppen brauchen den
Boden nur wie die Elfen, um ihn zu streifen, und den Schwung der
Glieder, durch die augenblickliche Hemmung neu zu beleben. Ich
wünsche dem Husumer Festival allezeit viel Aufschwung und
wenig Bodenhaftung!«
Obwohl der Rittersaal
bis auf den letzten Platz belegt ist, beginnt der Applaus nur
spärlich. Das Publikum scheint erst langsam aus der Lethargie
zu erwachen, die bei längeren Redebeiträgen
gewöhnlich eintritt, und wird vom Klatschen erst in die
Wirklichkeit zurückgeholt.
»Wir bedanken
uns bei unserem lieben Herrn Staatssekretär Ellert-Esmarch aus
Kiel für die aufmunternden Worte«, sagt Hanna Lechner
mit markiger Stimme und schüttelt dem fülligen Mann mit
der Nickelbrille die Hand.
Ein Glück, dass
mir zumindest die Eröffnungsrede von Frau Rebinger erspart
geblieben ist, denkt Ronja Ahrendt und sieht, wie Staatsanwalt
Rebinger bis zur ersten Reihe durchgeht. Dort entdeckt sie die Frau
von der Kasse, die ihrem Gatten einen Stuhl reserviert hat.
Rebinger nimmt Platz und drückt ihr flüchtig einen Kuss
auf die Wange.
»Ist das Frau
Rebinger da vorn, Susan?«, fragt Ronja ihre
Freundin.
»Definitiv!«,
bestätigt Susan.
»Das ist aber
nicht die Frau, die der feine Herr ins Hotel abgeschleppt hat. Da
frage ich mich, wer war die scharfe Braut an seiner
Seite?«
»Hat Rebinger
dich damals gesehen?«
Ronja Ahrendt bleibt
die Antwort schuldig, da das Deckenlicht im Raum erlischt,
während mehrere Scheinwerfer die Bühne anstrahlen. Der
Vorhang öffnet sich und gibt den Blick auf ein verfallenes,
altes Giebelhaus frei. Aus dem Inneren des Gebäudes dringt das
schrille Gequieke von unzähligen Mäusen. Hinter dem
Fenster im dritten Stock erscheint ein rattenartiges Gesicht. Aus
einem Lautsprecher am Bühnenrand erschallt ein
Kinderchor:
»In Bulemanns
Haus,
in Bulemanns
Haus,
da gucken die
Mäuse
zum Fenster
hinaus.«
Ein Mann mit
weißgeschminktem Gesicht tritt auf. Er trägt einen
weiten, grauen Umhang, hat einen Panamahut tief in die Stirn
gezogen und hält zwei Marionetten in seinen Armen, einen
kleinen Knaben und eine junge Frau. Er nähert sich vorsichtig
dem Bühnenrand, setzt sich dort nieder, indem er die Beine
hinabbaumeln lässt. Trotz der Maske erkennt Ronja Ahrendt
ihren Peter sofort.
»Es gibt eine
alte Weisheit«, beginnt der Puppenspieler und spricht das
Publikum an.
»Die Flüche
der Armen sind besonders gefährlich, wenn die Hartherzigkeit
der Reichen sie hervorgerufen haben.«
Er macht eine
längere Pause und fährt dann fort: »Sie wollen nun
bestimmt wissen, was diese Weisheit mit dem Haus hinter mir zu tun
hat. Nun, das Haus ist ›Bulemanns Haus‹. Seit
Menschengedenken ist dort niemand mehr hinein- und niemand
herausgegangen. Das war aber nicht immer so, und deshalb
erzähl ich Ihnen die ganze Geschichte am besten von Anfang
an.«
Der Puppenspieler
setzt die beiden Marionetten wieder auf die
Holzfüße.
»Ich will nicht
dorthin, Mutter! Das alte Haus macht mir Angst!«, lässt
er die Marionette des kleinen Knaben rufen, indem er geschickt mit
den Fingern die Fäden zieht. Die vorsichtige
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