Poppenspael
Bewegung der
Figur drückt Ängstlichkeit aus, und die zerlumpte
Kleidung gibt ihr den Anschein von großer Armut. Die
Marionette der jungen Frau, nicht weniger zerlumpt, legt dem Kind
die Hand auf den Kopf.
»Da wohnt dein
Onkel Daniel, mein Kind«, beruhigt sie das Holzkind und
klappt dabei den Holzmund auf und zu. »Onkel Daniel ist mein
großer Bruder, Kind! Sein Pfandhaus ist gefüllt mit
prachtvollen Dingen. Er wird uns in unserer Armut nicht
alleinlassen und uns sicher etwas Geld borgen.«
Ein leises Schniefen,
das in das Ohr von Ronja Ahrendt dringt, lenkt sie von dem
Geschehen auf der Puppenbühne ab. Neugierig dreht sie den Kopf
zur Seite und sieht Petra Ørsted, der die Tränen
über die Wangen kollern.
Nah am Wasser gebaut,
denkt die Krankenschwester und lächelt ein wenig über
die, ihrer Meinung nach, überzogene Reaktion der
Steuerberaterin.
4
Die schmalen, grau
gestrichenen Eisenstufen der Wendeltreppe drehen sich zwischen zwei
Wänden steil nach oben. Schwerfällig stapft er hinauf und
gelangt aus der beklemmenden Enge in einen runden Raum, dessen
Wände aus Metallplatten mit massiven Nieten zusammengehalten
werden. Durch mehrere Bullaugen rundherum fällt ein matter
Lichttanz, verursacht durch Regentropfen, die gegen die Scheiben
schlagen und wasserfallartig über das Glas schwemmen. Durch
eine Eisentür tritt er hinaus auf eine schmale Plattform, die
sich um den Turm windet und nur mit einem einfachen Geländer
gesichert ist. Unter seinen Füßen tobt das Meer, das
donnernde Rauschen ist selbst hier oben noch zu hören. Der
Sturm heult von See her. Ein Lichtstrahl kreist über seinem
Kopf und wird von den schwarzen Wolken verschluckt.
»Jan, was machst
du hier oben?«
Er fährt
erschrocken herum, sieht Anna in der Tür stehen, die ihm ihre
Hand entgegenstreckt. Sie trägt ein strahlendweißes
Brautkleid, das immer greller wird, bis es ihn blendet.
Jan Swensen
schlägt die Augen auf. Ein Sonnenstrahl fällt durchs
Fenster in sein Gesicht, und Anna und das Getöse sind
schlagartig verschwunden. Er hört tiefe, rhythmische
Atemzüge neben sich, Anna schläft ihren Schlaf der
Gerechten. Nach kurzer Besinnung wird ihm klar, dass es
Samstagmorgen ist und er sein lang ersehntes freies Wochenende ohne
Bereitschaft hat. Der Blick auf den Wecker lässt ihn
geräuschvoll einatmen, es ist erst 8.18 Uhr. Als notorische
Langschläferin wird Anna mindestens noch zwei Stunden
brauchen, bevor er mit ihr rechnen kann. Vorsichtig schiebt er die
Decke beiseite und schleicht sich davon. Unter der Dusche hat er
plötzlich wieder das Bild von Anna im Brautkleid vor Augen.
Vor seinem inneren Auge rekonstruiert er seinen merkwürdigen
Traum.
Wir standen beide auf
dem Leuchtturm von Westerhever und wollten heiraten, erinnert er
sich und es kommt ihm der Artikel im Lokalteil der Husumer
Rundschau in den Kopf, den er vor einigen Tagen gelesen hatte. Seit
dem Sommer 2000 können Paare auf dem romantischen Westerhever
Leuchtturm die Trauung vollziehen lassen, stand dort geschrieben.
Er hatte kurzfristig mit dem Gedanken gespielt, Anna eines Tages
dort oben zu heiraten, sozusagen über allen Kirchtürmen
von Eiderstedt.
Zu viel Heirat
für dich, mein Lieber, denkt er und ist sich ziemlich sicher,
warum ihn die Sturmflut heute Nacht im Traum heimgesucht
hatte.
Zehn Minuten
später marschiert er locker über die leere
Dorfstraße in Richtung Bäcker und kauft Brötchen,
Milch und die Husumer Rundschau. Umfragewerte von SPD und
Grüne steigen an, überfliegt er die Schlagzeile der
ersten Seite. Bundeskanzler Schröders ablehnende Haltung zu
der amerikanischen Kriegsdrohung gegen den Irak könnte am 22.
September die Bundestagswahl entscheiden.
Mensch, morgen ist die
Bundestagswahl, denkt der Hauptkommissar und faltet die Zeitung
zusammen, und deine Wahlkarte liegt in deiner Wohnung. Na ja, musst
sowieso deine Stimme in Husum abgeben, dann kannst du auch schnell
dort vorbeifahren.
Er macht sich auf den
Rückweg. Links der Straße stehen keine Häuser.
Bodennebel liegt über den Wiesen. Vereinzelte Bäume ragen
müde aus dem milchigen Watteteppich. Die Sonne ist aus der
Deckung der Nacht gekrochen, klettert unaufhaltsam den Himmel
hinauf und leckt ihr mildes Licht über die flache Landschaft
und Annas Reetdachhäuschen. Wieder im Haus, wirft er zuerst
einen Blick ins Schlafzimmer, Anna schläft immer noch tief und
fest. Er bringt den Einkauf in die Küche und beschließt,
im Zimmer unterm Dach, das Ende nächster
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