Poppenspael
Der
unauffälligste Ort, um den Wagen abzustellen, ist für ihn
ein Platz in unmittelbarer Nähe der Kirche. Einen Zusammenhang
zwischen Kirche und Verbrechen, davon ist er fest überzeugt,
schließen die meisten Menschen automatisch aus.
Außerdem ist nach Mitternacht in einem kleinen Dorf wie Welt
sowieso keine Menschenseele mehr auf den Beinen.
Als er den
Zündschlüssel abzieht, beginnt sein Adrenalinspiegel
schlagartig anzusteigen. Er steigt aus, macht einige Kniebeugen,
atmet kräftig durch, nimmt die Stoffbeutel mit dem
Zeitungspapier und die kleine Werkzeugtasche aus dem Kofferraum und
schließt die Heckklappe so lautlos, wie es eben geht. Obwohl
die Straßenbeleuchtung abgeschaltet ist, scheint ihm alles
taghell erleuchtet zu sein. Nur die Häuser und Bäume sind
farblos silbriggrau und strahlen im fahlen Mondschein unwirklich
wie Pergamentpapier. Sein Blick geht unruhig hin und her, aber hier
draußen ist alles wie ausgestorben. Er geht mit zügigen
Schritten die Dorfstraße hinunter und biegt zielsicher in den
Tönninger Weg ein. In der schmalen Nebenstraße reihen
sich die Einfamilienhäuser aneinander. Kein Fenster weit und
breit ist erleuchtet.
Das abseits gelegene
Grundstück, auf das er zusteuert, ist von einer hohen, dichten
Hecke umgeben. Hinter der verzierten Gartenpforte führt ein
gepflasterter Weg bis zur Haustür. Er schaut noch einmal nach
links und rechts und betritt den Vorgarten. Ein Holzzaun versperrt
den Zugang zur Rückseite des Hauses. Er packt den oberen Rand
und zieht sich mühelos mit den Armen hoch, schwingt das rechte
Bein hinüber und springt auf die andere Seite. Die Terrasse
ist mit mehreren Reihen Blumenkübeln vollgestellt, es gibt
kaum ein Durchkommen. Einige Blüten knicken ab, als er sich
hindurchzwängt. Seine Taschenlampe braucht er nicht, das
Mondlicht reicht aus.
Der Schwachpunkt jeden
Hauses ist die Terrassentür. Er nimmt den Glasschneider
heraus, hält den Holzgriff in der Hand und simuliert einen
Trockenschnitt, indem er mit dem Stahlrädchen ohne Druck
locker über die Scheibe fährt. Dann drückt er zu und
ein feines, kratzendes Geräusch begleitet den kreisrunden
Schnitt, den er, ohne abzusetzen, durchführt. Mit dem Daumen
drückt er das Glas heraus, greift mit der Hand durchs Loch und
öffnet die Tür von innen. Er zieht eine Wollmütze
übers Gesicht. Bevor er vorsichtig in den Raum tritt, horcht
er ins Innere. Alles bleibt ruhig. Der Mondschein fällt durch
das Panoramafenster direkt auf den Vitrinenschrank an der
gegenüberliegenden Wand. Er geht darauf zu, nimmt seine
Taschenlampe in die Hand, leuchtet gierig in die Vitrine und
zählt die Porzellanfiguren auf den Borden. Es sind zwölf
Stück, eine einzigartige Sammlung, die ein Lächeln
über sein Gesicht huschen lässt.
Die filigrane
Ausführung, insbesondere die Unterglasurfarben, sagen ihm,
dass alle Einzelstücke aus der Manufaktur Bing &
Grøndahl aus Kopenhagen stammen müssen. Eine der
größeren Porzellanfiguren stellt den Dichter Hans
Christian Andersen dar, der einem Mädchen im blauen Kleid aus
einem Buch vorliest.
Das Teil ist
mindestens 800 wert, denkt er und jubelt innerlich, bevor er den
Lichtstrahl zu den nächsten Figuren gleiten lässt, einem
Mandolinenspieler, einer Frau mit einem Eierkorb auf dem Kopf,
einem kleinen Mädchen, das Milch verschüttet hat, und
einer sitzenden Krankenschwester. Durch die Bank alles besonders
wertvolle Figuren. Er öffnet den Schrank, nimmt eine Figur
nach der anderen heraus, wickelt jede einzelne vorsichtig in
Zeitungspapier und verstaut sie in seinen beiden Stoffbeuteln.
Seine Planung ist wieder professionell durchdacht, der ganze Bruch
dürfte höchstens 20 Minuten dauern. Er ist mit sich
selbst zufrieden und lässt sich voller Übermut
rückwärts in einen Sessel plumpsen.
Als die Hausbesitzerin
ihm vor zwei Monaten auf ihrer Geburtstagsfeier von der Bing &
Grøndahl-Porzellansammlung erzählt hatte, war er sofort
hellhörig geworden. Er wusste von seinem alten Herrn, aus
erster Hand sozusagen, dass dieses Porzellan sehr wertvoll ist.
Sein Vater hatte gleich nach dem Zweiten Weltkrieg in der
Manufaktur Arbeit bekommen und war bis 1986 dort gewesen, kurz
bevor die Firma von der Royal Copenhagen geschluckt
wurde.
Es dürfte also
kein Problem sein, das Zeug locker an den Mann zu bringen, denkt
er. Jeder Antiquitätenhändler nimmt mir die
Porzellanfiguren mit Kusshand ab. Die lassen sich teuer
weiterverhökern.
Er merkt, dass sein
Mund
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