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Populaermusik Aus Vittula

Titel: Populaermusik Aus Vittula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mikael Niemi
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doch zu Ende sein?«
    »In China.«
    Das war eine klare Antwort, die es mir leichter ums Herz machte. Wenn man nur lange genug lief, so fand man das Ende. Und das lag im Reich dieser schlitzäugigen Tschingtschangt-schongmenschen auf der anderen Seite der Welt.
    Es war Sommer und brütend heiß. Mein Hemd wurde nass von dem tropfenden Eis, das ich leckte. Ich verließ unseren Hofplatz, verließ die Sicherheit. Ab und zu warf ich einen Blick zurück, aus Angst, mich zu verlaufen.
    Ich begab mich zu dem Spielplatz, der eigentlich nur eine alte Graswiese war, die mitten im Ort zurückgeblieben war. Die Gemeinde hatte ein Schaukelgerüst auf dem Gras zusammengeschustert, und ich ließ mich auf dem schmalen Sitzbrett nieder. Eifrig begann ich die Ketten zu bearbeiten, um an Fahrt zu gewinnen.
    Im nächsten Moment bemerkte ich, dass mich jemand beobachtete. Da saß ein Typ auf der Rutschbahn. Ganz oben, als ob er im nächsten Moment herunterrutschen wollte. Aber er zögerte, unbeweglich wie ein Raubvogel, und betrachtete mich mit weit aufgerissenen Augen.
    Ich war auf der Hut. Der Junge hatte etwas Unangenehmes an sich. Er konnte nicht dort gesessen haben, als ich kam, und es schien, als wäre er aus heiterem Himmel aufgetaucht. Ich versuchte, ihn nicht weiter zu beachten, schaukelte stattdessen so hoch, das die Ketten in meinen Händen schlaff wurden. Schweigend schloss ich die Augen und spürte das Kribbeln im Bauch, während es immer schneller nach unten ging, und dann flog ich wieder hinauf ins Licht auf der anderen Seite.
    Als ich die Augen öffnete, saß er in der Sandkiste. Als wäre er mit ausgebreiteten Flügeln dorthin geflogen, ich hatte keinen einzigen Laut gehört. Immer noch betrachtete er mich mit intensivem Blick, den Oberkörper halb abgewandt.
    Ich gab keinen Schwung mehr und ließ die Schaukel langsam auspendeln. Schließlich sprang ich ins Gras hinunter, machte einen Purzelbaum und blieb liegen. Starrte in den Himmel. Die Wolken zogen weiß über den Fluss. Sie sahen aus wie große, wollige Schafe, die sich im Wind zum Schlafen gelegt hatten. Als ich erneut die Augen schloss, sah ich kleine Wesen, die sich auf der Innenseite meiner Augenlider bewegten. Kleine schwarze Punkte, die über eine rote Haut krabbelten. Als ich die Augen fester zukniff, entdeckte ich violett gefärbte Kerle in meinem Bauch. Sie kletterten übereinander und bildeten ein Muster. Auch hier gab es Tiere, auch das war eine Welt, die es zu entdecken galt. Ein Schwindel erregendes Gefühl packte mich, die Einsicht, dass die Welt aus Unmengen von Tüten bestand, die alle übereinander gestülpt waren. Durch wie viele Schichten man sich auch hindurchzwängte, es gab immer noch eine neue.
    Ich öffnete die Augen und hielt die Luft vor Überraschung an. Der Junge lag neben mir. Er hatte sich dicht neben mir ausgestreckt, so dicht, dass ich seine Wärme spüren konnte. Sein Gesicht war sonderbar klein. Der Kopf an sich war normal, aber seine Gesichtszüge drängten sich auf einem viel zu kleinen Platz zusammen. Wie das Gesicht einer Puppe, festgeleimt auf einem großen, lederbraunen Fußball. Die Haare waren unregelmäßig geschnitten, offensichtlich nicht vom Friseur, der Schorf einer Schramme auf der Stirn würde bald abfallen. Er kniff ein Auge zusammen, das obere, um die Sonne einzufangen. Das andere lag unten im Gras, weit aufgerissen, mit einer riesigen Pupille, in der ich mein eigenes Spiegelbild sehen konnte.
    »Wie heißt du?«, wollte ich wissen.
    Er gab keine Antwort. Bewegte sich nicht.
    »Mikäs sinun nimi on?«, wiederholte ich auf Finnisch.
    Jetzt öffnete er den Mund. Es wurde kein Lächeln, aber man sah die Zähne. Sie waren gelb, mit einem alten Speiserestefilm bedeckt. Er steckte den kleinen Finger in ein Nasenloch, die übrigen Finger wären zu dick gewesen, hätten nicht reingepasst. Ich tat es ihm gleich. Wir gruben beide unsere Popel aus. Er steckte sie in den Mund und schluckte. Ich selbst zögerte. Da schnappte er sich meinen Happen und schluckte auch ihn hinunter.
    Mir war klar, dass er mein Freund werden wollte.
    Wir setzten uns im Gras auf, und ich wollte ihn auch so richtig beeindrucken.
    »Man kann überall hingehen!«
    Er hörte konzentriert zu, aber ich war mir nicht sicher, ob er verstanden hatte.
    »Sogar nach China«, fuhr ich fort.
    Um zu zeigen, dass ich es ernst meinte, begann ich die Straße entlangzugehen. Frischen Mutes, mit einem aufgesetzt pompösen Selbstvertrauen, das meine Nervosität verbergen

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