Poseidon - Der Tod ist Cool
Zucken der Mundwinkel und das Tränen der Augen gaben ihm Leben.
Er weinte.
Die Chorea Huntington nimmt einen über fünfzehn bis zwanzig Jahre dauernden Verlauf, der mit dem Tod endet.
17. Kapitel
Kristalle stürzten vom Nachthimmel.
Millionen Eiskristalle, tonnenschwer und messerscharf.
Sie bohrten sich in die Erdoberfläche, durchschlugen Häuser, zertrennten Menschen.
Frenzel schüttelte sich instinktiv, als die Bilder der letzten Nacht in sein Bewusstsein drängten. Er erinnerte sich nicht daran, schon einmal in dieser Intensität geträumt zu haben. Die Unterhaltung mit Reiter gestern Abend brachte anscheinend nicht nur seine Zuversicht zum Klingen. Er ließ sich davon nicht beirren.
Endlich ein Anfang.
Frenzel schritt den Flur des Polizeipräsidiums zu seinem Büro entlang. Der Moder kroch aus allen Ecken des Gebäudes. Er haftete an ihm, wie eine Schuld, die sich nicht abwaschen ließ. Frenzel kannte jeden Winkel hier. Die quietschenden Angeln der Tür zur Sitte. Den bröckelnden Verputz neben dem Kaffeeautomaten, dessen Gebräu Tote zum Leben erwecken konnte. Die mit Graffiti und Schnitzereien verzierten Wartebänke. Das vom spärlich hereinfallenden Sonnenlicht gebleichte Informationsmaterial in den Glasvitrinen.
Er wusste, welcher Kollege seinen Flachmann herauszog, um seine Nerven und Hände zu beruhigen. Wer sich angeblich noch im Dienst befand, um seine Frau zu betrügen. Wer sein dürftiges Salär verzockte. Sie waren
eine
große Familie.
Frenzel bog nach links ab und erreichte nach wenigen Metern sein Büro. Keines dieser modernen, rundum verglasten Module, die diverse amerikanische Serien zur Schau stellten, sondern in Derrick-Manier gehalten: einfache Holztür, ein Fenster mit Jalousien, Schrank, Schreibtisch, Telefon. Einziges Zugeständnis an den Fortschritt – der Computer mit Flachbildschirm. Frenzel fuhr in hoch und kontrollierte kurz seinen Emaileingang – vielleicht gab es neue Erkenntnisse von der Gerichtsmedizin.
Fehlanzeige.
Okay, dann werde ich meinem Freund Michael einen Besuch abstatten. Bin gespannt, was er von dem Gespräch mit Reiter hält.
Der Gedanke hing noch in der Luft, als er sich schon auf den Weg zu seinem Chef machte. Beim Verlassen des Büros griff er instinktiv in sein Postfach – es lag ein Kuvert darin. An ihn persönlich adressiert, ohne Absender. Frenzel ertastete den Inhalt – es handelte sich um eine CD. Er riss im Gehen die Verpackung auf und fingerte sie heraus. Die Silberscheibe besaß weder Aufdruck noch Hinweis über ihre Daten – sie lag eingebettet in einer schlichten Plastikhülle; kein Cover, kein zusätzliches Schreiben. Frenzel prüfte erneut den Umschlag – er hatte nichts übersehen. Er zuckte mit den Schultern. Als er Nowotnys Büro betrat, dachte er bereits nicht mehr daran. Die Unterhaltung mit Reiter stürmte mit Macht ins Zentrum seines Verstandes. Er vergaß sogar, zu klopfen.
„Morgen Michael...“
Weiter kam Frenzel nicht – Nowotny telefonierte.
„Ja sicher.“ Nowotny nickte, dabei sah er Frenzel fragend an. „Seien Sie unbesorgt, Sie erfahren es als Erster.“ Nowotny lief unruhig um seinen Schreibtisch herum. „Ihnen auch noch einen schönen Tag, Herr Innenminister.“
Das Telefon krachte in seine Station zurück. Nowotny ließ sich seufzend in seinen Sessel fallen.
„Puh. Gott-sei-Dank ist dieses Gespräch beendet. Dir auch einen guten Morgen. Kannst du nicht anklopfen, wie jeder andere anständige Mensch auch?“
„Entschuldige bitte, aber ich war in Gedanken versunken.“
Frenzel setzte sich mit verschränkten Armen auf Nowotnys Pult.
„Das Innenministerium? Sind wir denen wieder nicht schnell genug?“
Frenzel schüttelte ungläubig den Kopf.
„Diese Theoretiker!“
Sein Ton ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, dass ihm wirklich schlecht wurde, wenn er nur an diese Einrichtung dachte.
„Du sprichst mir aus der Seele, mein Freund. Das Ministerium setzt mich enorm unter Druck wegen der beiden Todesfälle. Kofen war eben kein Unbekannter. Immer die alte Leier. Sie wollen endlich erste Ergebnisse sehen. Irgendeine greifbare Spur. Ich halte es langsam nicht mehr aus.“
Nowotny quälte sich aus seinem Sitzmöbel. Er torkelte zur Kaffeemaschine.
„Was ist denn mit dir los? Lässt dich etwa dein Kreislauf im Stich?“
Frenzel blickte besorgt.
„Keine Sorge!“ Nowotny hob beschwichtigend die Hand. „Ich war bis nachts um halb drei im Büro und bin seit acht wieder hier. Mir fehlt nur
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