Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
Zerberus, das stand fest. Wer aber waren die Drahtzieher, und was war ihr Motiv? Er wusste nichts, und er konnte die Situation nicht einschätzen. Aber davon durfte er sich jetzt nicht kirre machen lassen. Stattdessen musste er versuchen, analytisch vorzugehen. Nachdenken, wer ihm das warum antat. Er hatte viele Feinde. Er hatte eine Menge Menschen ruiniert. Firmen, Anleger, Zocker, Banker. Aber er hatte den Menschen nur das geboten, wonach sie gesucht hatten: Geld und immer mehr davon. Sie alle waren getrieben von ihrer Gier. Für ihn hatte Geld keine Rolle gespielt. Die Bewegungen auf seinem Konto waren uninteressant. Es war immer genug da gewesen. Er war auf den Kick aus, den Thrill . Den richtigen Moment, den es zu erwischen galt, bevor man kaufte oder verkaufte. Den Transfer einleitete. Er hatte seine Befriedigung daraus gezogen, dass er Transaktionen all over the world am Laufen hatte. Er allein. In seiner Schaltzentrale da oben in seinem Hirn, wo alle Fäden zusammenliefen. Unwillkürlich grinste er. Er würde die endgültig ficken. Sie hatten sich ein Tier in den Keller gesperrt und es angekettet, in der falschen Gewissheit, es unter Kontrolle zu haben. Aber es würde der Tag kommen, an dem sie begreifen würden, dass er in der Lage war, die Ketten zu sprengen.
Nun ging er in den Liegestütz und fing an zu pumpen. Dreiundvierzig, vierundvierzig, fünfundvierzig …
5.
Mit beiden Händen hielt sie die Tasse umklammert. Die Wärme tat ihr gut. Sie fror, obwohl es ein heißer Tag war, bestimmt an die dreißig Grad. Aber Gudrun von Rechlin spürte seit langem, dass Kälte ihren Körper ergriff. Die Kälte des Alters, des nahenden Todes. Als sie das letzte Mal beim Arzt war, vor vielleicht zwei Jahren, hatte der festgestellt, dass ihr Blutdruck viel zu niedrig war. Er hatte sie ermahnt, sich mehr zu bewegen. Aber sie war rüstig, sie bewegte sich. Treppauf, treppab. In den Keller und wieder hoch, in den ersten Stock. Und wieder hinunter. Zurzeit aber nahm sie die Treppe in den Keller so selten wie möglich. Der Kerl da unten würde es schon ein paar Tage ohne Essen aushalten. Dreimal am Tag einen Becher mit Wasser, das war das höchste der Gefühle. Sie wusste nicht, was sie mit ihm anfangen sollte. Sie hatten nicht darüber geredet, vorher, als sie den Plan schmiedeten, sie und Julius. Es war ihr gar nicht in den Sinn gekommen, dass sie alleine für die Geisel verantwortlich wäre. Es hatte immer nur geheißen: Nach zwei Wochen kommt Julius, und dann beginnen wir, Druck auszuüben. Aber was in der Zwischenzeit passieren sollte, was sie anstellen sollte mit dem fremden Mann in ihrem Keller, darüber hatten sie sich keine Gedanken gemacht. Hatte sie sich keine Gedanken gemacht. Dass sie seine Exkremente wegräumen musste, zum Beispiel.
Gudrun strich über die Wachstuchdecke und starrte dann wieder nach draußen. Frankfurt–Lohdorf, das waren vielleicht vierhundert Kilometer. Fünf Stunden würde Julius brauchen. Also würde er in ein bis zwei Stunden hier sein. Bis dahin müsste Annette endlich aus dem Haus sein, sie sollte ihn nicht sehen. Sie erinnerte sich bestimmt nicht an Julius, den sie erst einmal getroffen hatte, und vor allem: Sie ahnte nichts von ihrem gemeinsamen »Projekt«.
Gudrun hatte sich alles zurechtgelegt. Julius sollte etwas weiter weg parken, am Novalisplatz. Dort, wo die Geschäfte waren. Da fiel ein Wagen mit fremdem Kennzeichen weniger auf. Außerdem würde sie ihn in ihrem Schlafzimmer einquartieren, sie selbst würde so lange auf dem Sofa schlafen. Annette würde nichts bemerken. Sie lebte in der Einliegerwohnung, in ihrem eigenen Teil des Hauses. Das große Wohnzimmer nutzte sie nicht, es sei denn, Gudrun brachte sie zum Ausnüchtern dorthin. Gudrun sah auf die Küchenuhr. Warum war Annette noch nicht gegangen? Der Literaturzirkel begann um acht. Jetzt war es kurz vor acht, und ihre Tochter hatte das Haus noch immer nicht verlassen. In der Regel blieb Annette bis weit nach Mitternacht bei ihren Freundinnen sitzen. Zu dem Zeitpunkt sollte Julius den ersten Durchgang mit dem Mann im Keller hinter sich haben. Vielleicht würden sie dann schon wissen, was zu tun wäre, um ihr Geld zurückzubekommen. Julius war wütend gewesen am Telefon, und das war gut so. Er würde seine Wut brauchen, um aus dem Mann die nötigen Informationen herauszubekommen. Sie kannte Dr. Julius Klinger nicht besonders gut, aber in den letzten drei Jahren hatte Gudrun den Eindruck gewonnen, dass er durchaus ein
Weitere Kostenlose Bücher