Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
Mann der Tat sei. Kein Wunder, er hatte eine erfolgreiche Zahnarztpraxis aufgebautund betrieben, obwohl er aus kleinen Verhältnissen kam. Das allein bewies schon, dass er Biss hatte. Er hätte eine gute Frau an seiner Seite verdient, nicht dieses Hausmütterchen Beate, die ihm den kranken Sohn geboren hatte. Deprimiert dachte Gudrun an ihren eigenen schwächlichen Mann, Volkmar, dessen verkorkste Gene diese Säufertochter hervorgebracht hatten. Ironie des Schicksals. Vielleicht wären sie füreinander bestimmt gewesen, sie und Julius. Aber nun war es zu spät für diese Gedanken. Sie hatten beide ihr Päckchen zu tragen, hatten beide ihre bucklige Verwandtschaft am Bein. Und sie waren ruiniert. Die Früchte eines ganzen Arbeitslebens hatte der Kerl ihnen genommen.
Nun hörte sie eine Tür klappen und beobachtete, wie Annette durch den Vorgarten ging und ihr Fahrrad holte. Gudrun schnaubte. Auf dem Rückweg würde ihre Tochter nicht mehr wissen, dass sie überhaupt ein Rad besaß. Sie würde nach Hause torkeln, sich zum Schluss noch ein paar Schlaftabletten einwerfen und dann halb bewusstlos dem neuen Tag entgegendämmern. Irgendwann würde Annettes Freundin ihren halbwüchsigen Sohn vorbeischicken, der ihrer Tochter das Fahrrad brachte, das sie »vergessen« hatte. Jämmerlich.
Gudrun trank den letzten Schluck Pfefferminztee, spülte die Tasse sogleich ab und stellte sie zurück in den Geschirrschrank. Sie musste noch alles vorbereiten für Julius’ Ankunft.
*
Stifter nahm die waschtrommelgroße Salatschlüssel aus Rubinas zarten Händen, tat sich etwas auf den Teller und reichte sie an Jeremias weiter. Der älteste Sohn der Familie Lanz war siebzehn und würde im kommenden Schuljahr sein Abiturmachen. Auch Zora, die Erstgeborene, saß heute Abend mit am ausladenden Esstisch, was selten geworden war. Sie hatte den Absprung aus dem Elternhaus bereits geschafft und wohnte mit einer Freundin in einer Wohngemeinschaft in Freising. Sie studierte im nahen Weihenstephan Ökotrophologie. Nur Noah fehlte noch am Tisch. Er legte Wert darauf, dass er mit fünfzehn ein freier Mensch war, tun und lassen konnte, was er wollte, und vor allem: auf keinen Fall pünktlich zu Zusammentreffen mit seinen Eltern erscheinen musste. Johannes Stifter bewunderte die Gelassenheit von Andreas und Kyra ihrem heftig pubertierenden Sohn gegenüber, aber sie bewältigten diese schwere Phase schließlich nicht zum ersten Mal.
Plötzlich erinnerte Stifter sich an die Kröten, über die er mit der jüngsten Tochter, Rubina, sprechen wollte. Er erzählte ihr von dem Pärchen, das er in der sengenden Sonne vom Weg aufgelesen hatte.
»Oh, die Armen!« Rubina sah Stifter sorgenvoll an und wäre vermutlich am liebsten gleich aufgesprungen, um sich auf die Suche nach dem verirrten Krötenpaar zu machen.
»Keine Bange, ich habe sie in einen Tümpel gesetzt, denen geht’s gut«, beschwichtigte Stifter. »Aber warum wandern sie los, um diese Jahreszeit?«
Rubina zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht konnte das Männchen nicht mehr laufen. Die Weibchen sind auf alle Fälle größer und stärker. Vielleicht war er auch krank?«
»Und sie hat ihn zum Onkel Doktor geschleppt?« Jeremias zwinkerte amüsiert zu seiner kleinen Schwester hinüber, die ihm sofort die Zunge rausstreckte.
»Aber die vergraben sich noch nicht, Rubi, oder?« Kyra,mit ausgeprägten Antennen für beginnenden Geschwisterstreit, mischte sich diplomatisch ein.
Rubina schüttelte den Kopf. »Nee, ist noch zu heiß. Frühestens Anfang Oktober.«
Andreas zwickte seine Frau liebevoll in die vollschlanken Hüften. »Trägst du mich auch rum, wenn ich nicht mehr laufen kann?«
Rubina kicherte, während Kyra ihrem Mann einen Kuss aufs Ohr gab. »Davon träumst du.«
»Aber vergraben könnten wir uns doch, im Herbst?« Jetzt zwinkerte Andreas seinen Kindern zu. Es war seine Art, Kyra zu zeigen, wie attraktiv er sie fand und dass er immer noch verliebt in sie war. Das tat er gerne vor Publikum, und Stifter, seit Jahren ohne feste Beziehung, musste sich eingestehen, dass er sich immer ziemlich einsam fühlte, wenn er vom Lanzschen Familientisch aufstand und in seine Holzhütte hinüberging.
»Jedenfalls ist es bei den Menschen wie bei den Kröten«, konstatierte Zora lächelnd, »die Weibchen sind definitiv die Stärkeren.«
»Am Arsch«, gab Jeremias zurück, den Mund voll Lasagne.
In dem Moment öffnete sich die Tür, und Noah schlurfte herein. Er gab seiner Mama
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