Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
einen Kuss auf den Scheitel, klatschte Andreas ab und setzte sich neben Zora. Keiner machte eine Bemerkung über seine Verspätung, stattdessen füllte Kyra ihm automatisch seinen Teller.
»Boah, du stinkst.« Zora rümpfte die Nase. »Nach Scheißkippen.«
Noah rollte mit den Augen. Wenn die beiden Geschwister aufeinandertrafen, überschüttete Zora ihren kleinen Bruder sofort mit Vorwürfen zu seinen Rauch- und Trinkgewohnheiten,denn sie war strikte Gegnerin von Rauschmitteln jeder Art. Sie ernährte sich vegetarisch und kündigte seit einigen Wochen an, dass sie künftig Veganerin sein wolle. Noah focht das nicht sonderlich an, der Einzige, der ihm in der Hinsicht die Hammelbeine langziehen durfte, war Jeremias. Um vom leidigen Thema abzulenken, ging Noah gleich in die Offensive.
»Deine Damen haben Männerbesuch bekommen«, wandte er sich an Stifter.
Dieser verstand nicht gleich. »Meine Damen?«, fragte er zurück und spürte, dass sich die Augen der ganzen Großfamilie erwartungsvoll auf ihn richteten.
»Von Rechlin«, präzisierte Noah. »Wir haben da oben noch ein bisschen abgehangen, als wir mit den Zeitungen fertig waren …«
»Und gesoffen«, murmelte Zora in ihren Salat.
»Fabi, Lukas und ich«, fuhr ihr Bruder unbeirrt fort. »Da kam so eine Spießerkarre, VW oder so, mit Frankfurter Kennzeichen. Der hat ewig gebraucht, um in die Parklücke reinzukommen. Wir haben uns echt einen abgelacht, so dämlich hat der sich angestellt. Jedenfalls ist dann so’n alter Typ mit Trenchcoat ausgestiegen.«
»Okay. Und warum …«
»Weil ich ihn kurz darauf gesehen habe, wie er bei denen geklingelt hat. Bei den von Rechlins. Ich bin noch mit dem Luki ein Stück gefahren. Und die alte Schabracke …«
»Noah!« Kyra schüttelte den Kopf.
»Was denn?« Noah schaufelte einen Riesenbissen Lasagne in sich hinein und sprach mit vollem Mund weiter. »Die Alte hat ihn jedenfalls reingelassen.«
Stifter nickte, ließ Noahs Geschichte aber unkommentiert,weil er fand, dass es ihn wahrlich nichts anging, wann die Damen von Rechlin Besuch bekamen. Wen und woher auch immer. Noah schien leicht enttäuscht, dass Stifter seine Geschichte kommentarlos hingenommen hatte und sich das Gespräch am Tisch schnell um etwas anderes drehte.
Von Andreas ließ sich Stifter noch zu einem gemeinsamen Bier nach dem Essen bewegen. Eine Stunde vor Mitternacht drehte er sich als Tagesabschluss noch eine Zigarette mit dem »Schwarzer Krauser«-Tabak, den er stets in einer Blechdose auf dem Fensterbrett aufbewahrte. Er lehnte sich an die hölzerne Wand seiner Behausung, die noch warm von der Sonne war, und betrachtete den klaren Sternenhimmel. Er sah so lange hinauf und versuchte, sich an die Sternbilder zu erinnern, die er von seinem Vater gelernt hatte, bis er sich die Finger an der Glut seiner Kippe verbrannte. Dann ging er ins Bett, glücklich, ohne einen Gedanken an Gudrun oder Annette von Rechlin verschwendet zu haben.
*
»Er macht sich über uns lustig.« Julius saß ihr gegenüber und drehte den Becher mit dem mittlerweile erkalteten Tee in den Händen. Alkohol hatte er abgelehnt. Er hatte nüchtern sein wollen, als er mit dem Gefangenen »verhandelte«. Aber die Verhandlungen hatten kein Ergebnis gebracht. Dabei war Gudrun so hoffnungsvoll gewesen. Als Julius vor ein paar Stunden angerückt war, wollte er sofort in den Keller gehen und den Gefangenen sehen. Er hatte entschlossen gewirkt. So, als wüsste er, was zu tun ist. Aber im Verlauf der Unterredung war Julius immer planloser geworden. Zunächst hatteer sich bedrohlich vor dem Kerl aufgebaut und ihn mit fester Stimme angeredet. Aber der hatte nur geschwiegen und gelächelt. Arrogant, ganz so, als sei er es, der die Oberhand habe. Gudrun hatte gemerkt, dass Julius immer schwächer wurde, dass er nicht mit dem selbstsicheren Gehabe des Gefangenen gerechnet hatte. Beide hatten sie geglaubt, dass der Mann geschwächt sein würde durch die tagelange Gefangenschaft, durch den Essensentzug, dadurch, dass niemand ihm gesagt hatte, warum er im Keller gefangen gehalten wurde. Aber als sie beide vor ihm standen, ihm, der auf dem Boden saß und zu ihnen aufsehen musste, hatte sie gespürt, wie der Kerl innerlich gewachsen war.
Julius hatte einige Schreiben vorbereitet, Vollmachten, die der Mann ihnen erteilen sollte, damit sie sich von seinem Vermögen holen konnten, was ihnen zustand. Aber der Banker hatte nur höhnisch gelacht und den Kopf geschüttelt. Wutentbrannt war Julius
Weitere Kostenlose Bücher