Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
beipflichten, doch nun erhob sich einer der Männer, der bislang mit dem Rücken zu ihm gesessen hatte. Er schwankte leicht, als er versuchte, einen Fuß über die Sitzbank zu heben, und sogleich hob das Gejohle seiner fünf Mittrinker wieder an. Der Mann erzählte etwas, einen Witz offenbar, denn die am Tisch Sitzenden quittierten seine Bemerkung mit lautstarkem Gelächter und prosteten sich erneut zu. Jetzt drehte sich der Mann um und ging mit unsicherem Schritt am Tisch von Andreas und Stifter vorbei. Es war Herr Regmeier, dessen starres Lächeln einer Fratze der Verzweiflung wich, sobald er seinen Kumpanen den Rücken zugedreht hatte. Er wischte sich im Vorübergehen den Schweiß von seinem Gesicht, und Stifter konnte sehen, dass seine Hand zitterte.
*
Es sah aus, als sei jemand eingebrochen, das Unterste war zuoberst gekehrt. Alle Schränke und Schubladen in der Küche standen offen, der Inhalt lag am Boden verstreut. Tassen und Teller waren zerbrochen, jemand musste die Schränke einfach leergefegt haben, ohne Rücksicht auf ihr Geschirr. Gudrun bückte sich und hob eine Scherbe auf, auf der eine halbe Rose erkennbar war. Das gute Geschirr mit dem Goldrand, welches sie noch von ihrer Mutter hatte und wie ihren Augapfel hütete. Nur am Wochenende holte sie es heraus, nun lag es zerstört auf dem Linoleumboden. Die Tränen stiegen ihr heiß in die Augen, sie konnte nicht fassen, mit welcher Wut da jemand über ihren Besitz hergefallen war. Auchim Schlafzimmer sah es nicht besser aus. Die Matratze lag auf dem Boden, ohne Laken, das Bettzeug abgezogen daneben. Ihre Wäscheschublade war halb aufgezogen und leer, der Inhalt im ganzen Zimmer verteilt, auch die Sachen aus den Schränken. Verzweifelt sah Gudrun von Rechlin, die noch immer am Boden hockte und die kaputte Porzellantasse in der Hand hielt, zu ihm hoch. Harald saß unerschütterlich am Küchentisch. Er hatte sich einen Teil desselben freigefegt, worüber er die Zeitung ausgebreitet hatte, und löste Kreuzworträtsel.
»Warum hast du das getan?«, fragte sie ihn, und ihre Stimme klang, als hätte sie eine Handvoll Mehl im Mund.
Harald unterbrach seine Beschäftigung und sah zu ihr hinunter. Gudrun hätte schwören mögen, dass sich in seinen Mundwinkeln der Anflug eines Lächelns zeigte. Er musterte sie, bevor er sich herabließ, zu antworten.
»Du weißt genau, dass ich das nicht gewesen bin. Warum sollte ich? Ich weiß, dass du kein Geld hast. Falls der Dieb überhaupt nach Geld gesucht hat.«
Jetzt lächelte er sie an, fast verachtend, fand Gudrun. Und gleichzeitig wusste sie, wer hier so gewütet hatte. Annette. Es konnte nur Annette gewesen sein, und wie ein Blitz durchzuckte Gudrun die Erkenntnis, was ihre Tochter dazu gebracht haben musste, in ihrem Reich derartig zu wüten: die Schlüssel für die Handschellen! Annette war besessen von dem Mann im Keller, sie wollte ihn besitzen, ihn befreien. Auf allen vieren kroch Gudrun zu der Kaffeedose, die auf der anderen Seite der Küche unter den Herd gerollt war. Panisch ergriff sie die Dose, und ihr Herz hüpfte, als sie am Gewicht spürte, dass der Kaffee noch in der Dose war. Aber sie musste ganz sichergehen. Rasch erhob sie sich, öffnete die Dose undschüttete den Inhalt über die Zeitung mit Haralds Kreuzworträtsel. Das dunkelbraune Kaffeepulver ergoss sich darüber, und in der Mitte lagen silbern blitzend zwei kleine Schlüssel. Sie atmete auf.
19.
Georg Thalmeier breitete den Merkur auf dem großen Holztisch aus. Auf der ersten und zweiten Seite konnte er nur fragmentarisch die Schlagzeilen lesen, denn Mizzi hatte ihm wie jeden Morgen am Gartentor aufgelauert und war über die zusammengerollte Zeitung hergefallen, als handelte es sich dabei um seinen Erzfeind, den roten Kater vom Kreuther Hof. Obwohl Thalmeier seine Tageszeitung heldenhaft verteidigte, ging es nicht ohne Blessuren ab. Das Titelblatt hing in Fetzen. Aber das Interesse des Exbullen galt ohnehin mehr dem Sport und dem lokalen Geschehen. Er überflog die Politikseiten, blieb hier und dort an einer Bildunterschrift oder einem Tortendiagramm hängen, blätterte kopfschüttelnd durch den Wirtschaftsteil und verweilte etwas länger beim Sport. Dem Fußball konnte er nichts abgewinnen, aber Turnen und Leichtathletik galt seine Leidenschaft. Georg Thalmeier war in seiner Jugend aktiver Turner und auch später bei Polizeisportwettbewerben immer auf den vordersten Plätzen gewesen. Bis seine Frau erkrankte und er jede freie Minute an
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