Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
Freiheit? Sie fragte sich, ob er so ohne weiteres seine Tätigkeit wiederaufnehmen konnte. Er war unter anderem im Day-Trading-Geschäft, stand in dem Artikel, aber Beate hatte keine Vorstellung davon. Sie wusste nur, dass er sie und ihren Mann schlecht beraten hatte, vielleicht betrogen, aber das war ihm nicht nachzuweisen gewesen. Man hatte ihnen, den Anlegern des Magna-Invest-Fonds gesagt, dass sie selbst schuld seien. Dass sie den Beteuerungen des Mannes keinen Glauben hätten schenken dürfen. Sie hätten sich besser informieren müssen. Von dem Betrug mit dem Fonds aber stand nichts in der Zeitung. Vielleicht wollte man nicht riskieren, die Empathie des Lesers aufs Spiel zu setzen. In diesen Zeiten genoss ein Banker kein hohes Ansehen. Und schon gar keiner, der in den Ruch kam, ein Anlagebetrüger zu sein.
Beate musterte das Gesicht des Mannes, aber sie konnte in ihm nicht den Mann erkennen, den sie im Keller gesehen hatte. Dieser hier in der Zeitung hatte ein Allerweltsgesicht. Auf der Straße hätte man ihn nicht erkannt. Ovale Gesichtsform, kurze dunkle Harre, schmaler Mund und gerade Nase.Nichts Aussagekräftiges war an ihm, kein besonderes Merkmal. Der Mann allerdings, den Beate in Gudrun von Rechlins Keller gesehen hatte, den würde sie niemals vergessen. Die leicht eingefallenen Wangen, die aufgerissenen Augen, die sie angstvoll angesehen hatten, als sie den Keller betreten hatte, der angespannte Kiefer, der Schweiß auf der Stirn – dieser Mann war unverwechselbar gewesen, ein gequältes Individuum. Sie würde ihn so schnell nicht vergessen. Er hatte vielleicht nicht die Freiheit verdient, wenn er ein Betrüger war, aber Gerechtigkeit. Immer wenn sie an ihn dachte, schob sich das Gesicht ihres Ehemannes dazwischen. Julius, mit dem sie alt geworden war. Der wunderbare, zartfühlende und aufmerksame Julius. Der sensible junge Mann, den sie vor fünfzig Jahren vor der Frankfurter Oper kennengelernt hatte. Und der mit den Jahren verschwunden war. Den Jahren der Selbständigkeit, der Praxisgründung, den Jahren nach der Geburt von Klaus. Als Julius sich in die Arbeit geflüchtet hatte. Und in den letzten Jahren konnte sie den Mann, in den sie sich einst verliebt hatte, nicht mehr wiederfinden, sosehr sie auch in seinen Gesichtszügen gesucht hatte. Vielleicht schien er manchmal noch in den Augen auf oder in einem weichen Zug um den Mund. Doch kaum hatte der alte Julius diesen Mund aufgemacht, war die Erinnerung an den jungen Julius wie ausgelöscht. Beschwerden, Anklagen, Bitternis. Das war es, was ihn heute beschäftigte. Keine Träume, Liebesschwüre und hochfliegenden Pläne mehr wie damals.
Beate riss sich zusammen und wandte ihre Konzentration wieder auf heutige Dinge. Sie müsste sich einen Plan zurechtlegen. Wenn sie befragt werden würde, würde sie zu Protokoll geben, dass ihr Mann sich vergangenen Samstag von ihrverabschiedet hatte, um eine alte Bekannte in Bayern zu besuchen. Seitdem habe sie nichts mehr von ihm gehört. Ja, sie habe sich durchaus gesorgt, sie sei ihm sogar hinterhergereist, aber habe ihn nicht zu Gesicht bekommen. Nein, sie habe nicht mit dem Gedanken gespielt, die Polizei einzuschalten. Schließlich hatte sie sein Auto gesehen, in Lohdorf, am Novalisplatz. Sie hatte also keinen Grund, zu glauben, dass er nicht bei ihr war, bei Gudrun von Rechlin, seiner Neuen. Sie hatte den Verdacht gehabt, er habe sie verlassen wollen. Sie glaubte, eine betrogene Ehefrau zu sein, um die Ehe hatte es in den letzten Jahren nicht zum Besten gestanden. Nein, den Namen Hans Günther Heims hörte sie zum ersten Mal. Von den Geldgeschäften ihres Mannes wusste sie nichts. Dass er Geld verloren hatte, erfuhr sie erst jetzt. Sie war schockiert – nichts mehr da? Wovon sollte sie nun leben?
Beate nickte. So könnte es funktionieren. Ihre Hände waren schweißnass, sie war eine schlechte, eine ungeübte Lügnerin. Aber sie hoffte, es zu schaffen. Schließlich war es glaubhaft, dass Julius sie über die Finanzen im Unklaren gelassen hatte. Und wenn sie die Geschichte einer Ehekrise gut darlegen konnte, dann würden die Polizisten auch verstehen, warum sie die Sachen ihres Ehegatten zusammengepackt hatte. Sie war verlassen worden und nun tief enttäuscht.
Beate Klinger faltete sorgfältig die Zeitung zusammen und warf einen Blick auf den kleinen Zettel, der darunter auf dem Tisch gelegen hatte. In ihrer runden, sauberen Schrift hatte sie aufgelistet, wie viel Rente sie bekam. Dazu die Unterstützung
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