Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Postkarten

Titel: Postkarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annie Proulx
Vom Netzwerk:
auf die Wand. Das Wasser war um fünf Zentimeter gestiegen. »Wir haben’ne Chance«, sagte Berg. »Jedenfalls haben wir’ne Chance.«
    Sie richteten die verlöschenden Stirnlampen in Cucumbers Richtung, aber es war nichts zu sehen. Sie riefen mit klappernden Kiefern, aber er antwortete nicht. Cucumber war jenseits des Lichtkegels, schwieg.
    Als endlich das Geräusch weit entfernten Klopfens ertönte, schlugen sie mit nassen Steinen gegen die Wand und weinten. Ein Stück entfernt, im Dunkeln, rollte Cucumber in zwanzig Zentimeter Minenwasser hin und her! Sein Mund küßte immer wieder den Steinboden, als wäre er dankbar, zu Hause zu sein.

15
    Das Buch des Indianers

    Er trug das Buch des Indianers jahrelang mit sich herum, bevor er anfing, hineinzuschreiben. Es hatte einen geschmeidigen Einband, schmale Streifen Schlangenleder, die mit langen Hexenstichen zusammengenäht waren. Die Seiten hatten abgerundete Ecken. Die Handschrift des Indianers war unmöglich; steile Buchstaben mit offenen Oberlängen und lange, geschnörkelte Unterlängen, Wörter gingen ineinander über, über die Sätze getürmte Auslassungen. Es gab sonderbare Listen. Auf einer Seite las Loyal:
    Opfer
    Wehklagen
    Hungern
    Gefängnis
    Traum & Vision
    Reisen
    An einer anderen Stelle lauteten die krummen Sätze: »Die Toten leben. Aus Opfern erwächst Macht. Geben mir gute Gedanken, beruhigen mein wildes Verlangen, stärken meinen Körper, lassen mich nicht das Falsche essen. Die Sonne und der Mond werden meine Augen sein. Lassen mich weißes Metall, gelbe Halme, rotes Feuer, den schwarzen Norden sehen. Lassen meine Arme 36mal rotieren.«
    Ob mit Opfer wohl Skalps gemeint waren? fragte Loyal sich unter seinem Cowboyhut.
    Die Stelle mit den Toten, die weiterlebten, ließ ihn an Berg und seine Vorstellung über die Geister von Minenarbeitern denken, an Bergs Tochter, wie er sie sich ausgemalt hatte, realer als alles, was Berg erzählt hatte. Bergs Kinder, dachte er, mit dem Schneegeschmack im Mund. Und Berg selbst, der irgendwo auf Aluminiumfüßen herumhoppelte. Er hatte gehört, daß in dem kleinen Krankenhaus in Uphrates, wohin Berg gebracht worden war, eine Krankenschwester die Schnürsenkel an seinen Schuhen aufgeschnitten hatte. Dann fing sie an, den linken Schuh herunterzuziehen. Mit einem nassen Schmatzen löste sich der Schuh und mit ihm, an der Innensohle klebend, die aufgedunsene, schwammige Sohle seines Fußes, so daß der Knochen bloßlag. Loyal wußte nicht mehr, ob sie ihn in das gleiche Hospital gebracht hatten. Zumindest konnte er noch ganz gut laufen, hatte weder Füße noch Zehen eingebüßt, aber die Schmerzen schienen auf Dauer in seinen Beinknochen eingeschlossen.
    Es fanden sich Zeichnungen von Vögeln in verblaßter Tinte, eine ganz und gar zerknitterte und verschmutzte Seite, als wäre das Buch offen auf den Boden gefallen, als wären tagelang Leute darauf getreten, bis jemand es aufhob. Aber das Buch war größtenteils noch leer, als hätte der Indianer erst vor kurzem damit begonnen, um eine Reihe bereits vollgeschriebener Bände fortzusetzen. Einige der Seitenüberschriften schienen recht nützlich.
    Einnahmen
    Ausgaben
    Orte, wo ich war Sehenswürdigkeiten
    Träume
    Geburtstage und Todestage
    Tricks
    Medizinische Überlegungen
    Schwierigkeiten
     
    Auf die Seite für Geburtstage hatte der Indianer geschrieben: »Mein Sohn Ralph, geb. am 12.8.1938, gest. an Diarrhö am 11.8.1939.« Unter Sehenswürdigkeiten hatte er nur eingetragen: »Freudenfeuer an der Straße« und »Kleine Leuchtende«.
    Loyal strich die Eintragungen des Indianers aus. Auf die Geburtstagsseite schrieb er seinen eigenen Namen mit Geburtsdatum, dann die seiner Familie. Er war sechsunddreißig Jahre alt. Zögernd, fast ohne den Stift aufs Papier zu drücken, schrieb er »Billy«, radierte es eine Weile später wieder aus. In Unterwäsche auf der Bettkante sitzend, wollte er etwas über die Uhr schreiben, aber auf der leeren Seite brachte er nur einen steifen, unvollständigen Satz zustande: »Die Uhr, die ich ihr schenkte.«
    Sie hatte eine billige, kleine Uhr, die nie richtig ging. Er hatte ihr ein Prachtstück gekauft - die Hälfte der Pelze, die im Winter in die Falle gegangen waren, für eine Lady Longines mit einem winzigen Zifferblatt, nicht größer als ein Zehn-Cent-Stück, und Diamantsplittern, die die Stunden markierten. Aus sechs Fuchspelzen hatte Mrs. Claunch als Weihnachtsüberraschung eine Pelzjacke genäht - »Molli«, sagte Billy dazu.

Weitere Kostenlose Bücher