Postkarten
schwankende Licht der Stirnlampe spiegelte sich in einem Meer, das sich vor ihnen bis dorthin erstreckte, wo der Steinschlag den Durchgang versperrte. Bevor er das Licht wieder ausknipste, drehte er sich zu Cucumber um, der die Unterarme an die Wand gelegt hatte und den Kopf an die nassen Hände drückte. Das Wasser sickerte ihm in die Stiefel. Das Leder war schwarz vor Nässe, glänzte wie Lackleder.
»Spar das Scheißlicht«, fuhr Berg ihn an. »In ein paar Tagen wirst du für ein Licht jemand umbringen. Hat keinen Sinn, es jetzt zu verschwenden.«
Es ließ sich nicht sagen, wie viele Stunden seit dem Einsturz vergangen waren, ohne das Licht einzuschalten. Der einzige mit einer Uhr war Berg. Das Wasser stieg bis über ihre Schuhe. Loyal spürte, wie seine Füße in dem glitschigen Leder anschwollen, die Stiefel eng mit schmerzendem Fleisch ausfüllten. Die Unterschenkel verkrampften sich, die Muskeln zuckten vor Kälte. Er hörte ein Klappern und dachte, es seien fallende Gesteinssplitter, ehe ihm aufging, daß Gesteinssplitter lautlos wie Messer ins Wasser gleiten würden. Ein wenig später wurde ihm klar, was da klapperte; Bergs und Cucumbers Zähne, und es wurde ihm klar, weil auch ihn Kälteschauer durchfuhren, bis er am ganzen Leib schlotterte.
»Die Kälte des Wassers zieht uns die Wärme aus dem Leib. Die Kälte bringt dich um, ehe du ersäufst«, sagte Berg. »Wenn wir das Werkzeug finden, einen Hammer und einen Meißel, dann haben wir eine Chance, ein Stück Stein rauszuschlagen und uns draufzustellen, ein paar Stufen zu hauen, damit wir aus dem Wasser rauskommen.« Sie tasteten unter dem Wasser die Wand ab, an der sie gearbeitet hatten. Die nutzlosen Bohrer waren da. Dann Loyals Brotzeitbehälter voll breiigem Wachspapier und Brotpampe, aber die Schinkenscheiben waren noch gut, und er aß eine, steckte die andere in die Jackentasche. Die Steinhämmer, Meißel und Bohreisen befanden sich in einer Werkzeugkiste aus Holz mit einem Eschenpflock als Griff. Sie kannten sie alle in- und auswendig, aber sie fanden sie nicht, nicht einmal, als sie bis zu den Knien ins Wasser wateten und vorsichtig mit den Füßen den Boden abtasteten.
»Selbst wenn ich auf sie trete, würde ich sie nicht spüren«, sagte Loyal. »Meine Füße tun mir so verdammt weh, daß ich nicht sagen kann, ob ich geh’ oder steh’.«
»Hab’ sie reingetragen«, sagte Cucumber. »Hab’ sie am Arm gespürt. Weiß nicht mehr, wo ich sie hingestellt hab’. Neben die Schienen vielleicht. Bin fast darüber gestolpert.«
Loyal spürte das Gewicht sich setzenden Gesteins über sich, fast ein Kilometer Stein.
Cucumber nuschelte: »Könnte dort sein. Vielleicht, ich glaube, wir brauchen’s heute nicht.«
Im Dunkeln blickten ihre Augen angestrengt, ohne zu sehen, in Richtung der Schienen und des Werkzeugkastens, die jetzt unter dem Gestein begraben lagen. Die roten Flecken und Blitze, die durch vollkommene Finsternis ziehen, flimmerten vor ihnen. Das Wasser stieg langsam.
Nach langer Zeit, bestimmt acht oder zehn Stunden, dachte Loyal, fiel ihm auf, daß die Schmerzen in seinen Füßen und Beinen einer kalten Taubheit gewichen waren, die zu den Lenden hochkroch. Er lehnte sich halb ohnmächtig an die Wand, weil er kaum mehr stehen konnte. Berg übergab sich im Dunkeln und schlotterte zwischen Krämpfen so heftig, daß seine Stimme, »äh-äh-äh-äh«, unwillkürlich aus ihm herausbrach. Auf der anderen Seite von Berg atmete Cucumber schwer und langsam in der nassen Schwärze. Neben ihm tropfte es ununterbrochen.
»Berg. Schalt deine Lampe an und sag uns, wie spät es ist. Damit wir das Gefühl für die Zeit nicht völlig verlieren.«
Berg fummelte mit seinen verrücktspielenden Händen herum und knipste die Lampe an, konnte die Zeit auf seiner tanzenden, hüpfenden Uhr aber nicht ablesen.
»Herrgott«, sagte Loyal, der den zuckenden Arm festhielt und zehn nach zwei ablas. Zwei Uhr? Zwei am Morgen nach dem Einsturz oder vierundzwanzig Stunden später am folgenden Nachmittag?
»Cucumber, meinst du, es ist Nachmittag oder zwei Uhr früh?« Und er blickte zu Cucumber, der breitbeinig dastand, die Arme an den Fels gepreßt, um das Gewicht von den Füßen zu nehmen, das Gesicht nach unten. Cucumber wandte den Kopf zum Licht, und Loyal sah das Blut aus schwarzen Nasenlöchern rinnen, das nasse Hemd vor Blut glänzen, das Wasser um Cucumbers Knie mit Blut vermischt. Cucumber öffnete den Mund, und die fahle Zunge kroch zwischen den blutigen
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