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Postkarten

Titel: Postkarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annie Proulx
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»Deswegen bin ich hier rausgekommen. Ich bin genau Ihrer Meinung. Deswegen mach’ ich diese Messungen. Okay, wenn Sie was sehen wollen, dann schauen Sie her!«
    Er tippte aufgeregt auf eine Kugelschreiberzeichnung auf liniertem Papier. Das mit fahrigen Strichen gezeichnete Tier wirkte kräftig. Ein Entenschnabler, der über eine trockene Ebene sprintete. Die mächtigen Beine arbeiteten unter ihm wie die eines Pferdes. Sein muskulöser Schwanz war waagrecht ausgestreckt.
    »Was halten Sie davon?« Durchs Fenster blies der heiße Wind. Das Pulsieren von Loyals Zahn erschütterte den Jeep. Bestimmt wieder ein Abszeß. Er zerrte zwei Bier hinten aus der Kühlbox, gab eines Irrer Blick. Würde den Whiskey rausholen müssen, um die Nacht durchzustehen.
    »Das sieht vernünftiger aus als der alte Schlammloch-Charlie. Ich glaube, das trifft’s ganz genau. Ich sag’ dir was: Wie ich dich dort in Medicine Bow gesehen hab’, hab’ ich dich für’n bißchen lahmarschig gehalten, aber das nehm’ ich zurück. Du mußt mal gejagt oder Fallen aufgestellt haben.«
    »Entenjagd. Gänse. Bin in Iowa aufgewachsen, und mein Daddy hat im Sumpf gejagt.«
    »Das ist es. Die meisten von den Kerlen, diese Experten, die hier rauskommen, sind Experten, die Knochen identifizieren können, sie kennen die Literatur, sie haben Köpfchen wie Einstein, aber sie haben nie gejagt oder Fallen gestellt, und sie haben kein Gefühl dafür, wie Tiere denken oder sich bewegen. Das ist was, damit muß man aufgewachsen sein.«
    »He«, sagte Irrer Blick. Zwischen seinen Zähnen spritzte ein bißchen Spucke hervor. »Ich hab’ noch mehr weithergeholte Ideen.«
    »Ich fahre. Du redest. Müssen ein Stück Weg hinter uns kriegen, solange es noch hell ist.« Es wäre in Ordnung gewesen, wäre der Zahn nicht gewesen. Irrer Blick hatte zwar Ideen. Aber konnte er mit einer Beißzange umgehen?
    »Hast du schon mal’n Zahn gezogen?«
    Der Student drehte sich auf seinem Sitz um und glotzte. »Horsley hat’s Ihnen gesagt, was. Der Mistkerl.«
    »Was gesagt?«
    »Das mit dem Zahnmedizinstudium. Ich hab’ Zahnmedizin studiert, bevor ich zur Paläontologie gewechselt hab’. Die Zähne haben mich darauf gebracht.«
    »Er hat’s mir nicht gesagt, aber das ist die beste Neuigkeit, die ich heute höre. Ich hab’ so’n verdammten Zahn, der mir im Kiefer pocht.«
    »Wie zäh sind Sie?«
    »Ach, ich hab’ mir schon Zähne mit’ner Beißzange ziehen lassen. Hast du das gemeint?«
    »Nee. Im Studium haben sie uns’nen Film gezeigt. Über irgendeinen Stamm, bei dem den Jungen mit einem großen Stock die Zähne ausgeschlagen werden, wenn sie in die Pubertät kommen. Ist der Höhepunkt von einem Ritus. Das wollt’ ich schon immer mal probieren.«

28
    Das Herz des Lebens

    »Ohne das Revier hier könnte ich nicht leben.« Larry, der Halbbruder, Larry saß im Dämmerlicht auf einem Baumstumpf und trank ein Glas voll dunklem Wein, wie ein Italiener. Das Revier konnte Larry unmöglich soviel bedeuten. Er übertrieb. Er war gefühlsduselig. Alle in der Welt der Kunst waren gefühlsduselig. Im Westen verblaßte das Zodiakallicht. Der Hund lag vor ihnen und wartete auf eine Schüssel Wasser. Zu dumm, dachte Witkin, um zur Quelle zu laufen und dort Wasser zu schlabbern. In seinen Barthaaren hing eine Feder.
    Witkin, der auf den Verandadielen saß, rupfte die Vögel. Er schnitt beim Arbeiten Grimassen, bleckte die krummen Zähne, beugte das Gesicht über den halbnackten Vogel, konnte sich nie von dem Bewußtsein frei machen, daß er mit Fleisch hantierte. Es war, als würde ein Teil von ihm die Vögel konfuserweise für winzige Patienten halten. Die Federn klumpten in seinen stinkenden Fingern zusammen. Heute gab es auch Waldschnepfen. Die im Herbst durchziehenden Schwärme. Sie hatten nicht damit gerechnet, kleine Vögel mit langen Schnäbeln und großen Augen, die durchs Laub flatterten, bald da, bald dort, einer, noch einer, zwei, die übrigen. Drei hatten sie erlegt. Larry hatte drei erlegt. Die erste Waldschnepfe, die sie je geschossen hatten. Er hielt die zerbrechlichen Körper, schaute in die erkalteten Augen. Auch Wanderdrosseln waren dagewesen, durchgezogen, Tausende Vögel in der Luft wie Mücken, wie Pfefferspuren in einer Schüssel Milch.
    »Früher hat man Wanderdrosseln gegessen«, hatte Larry gesagt, nachdem der Hund einen zwitschernden Schwarm von ihnen ins Nadelgehölz getrieben hatte. »Um die Jahrhundertwende hat man sie in den besten Restaurants gegessen.

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