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Postkarten

Titel: Postkarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annie Proulx
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sagen, wenn du besoffen bist, kannst du keine genauen Beobachtungen und keine präzisen Aufzeichnungen machen. Die Aufzeichnungen sind das Herz und die Seele der Astronomie. Wenn die Aufzeichnungen nicht stimmen, was nützen sie dann?« Der Finger wackelte, zählte die einleuchtenden Argumente ab. Loyal mußte ihm recht geben.
    »Aber ich hab’ mir mit meinem schlauen, triefenden Gehirn überlegt, daß die Aufzeichnungen immer noch einen Wert hätten, auch wenn ich dauernd von der Rolle wäre, aber in den nüchternen Abschnitten sorgfältig arbeiten würde, weil sie dann eine gewisse Regelmäßigkeit hätten. So rationalisiere ich mein Vorgehen. Und so arbeite ich. Meine Arbeit’ hat ihre Mängel, aber die Mängel sind konsistent.« Er lächelte listig. »Wenn Vernita jetzt da ist, dann mach’ ich’s anders. Ich gehe ins Blockhaus. Wie du weißt. Oder ich geh’ nach New Mexico, wie du weißt.« Die Stimme wurde leiser, zu einem Flüstern, vertraulich. »Hab’ das Blockhaus vorm Krieg gekauft. Bin seitdem immer hierhergekommen, wenn die Matrosin zu Hause ist. Turnusmäßig. Regelmäßig. Nach einem Muster.« Er lächelte breit.
    Er fing an, sobald das Blockhaus in Sichtweite war, als hätte er die Grenze zu einem freizügigeren Land überschritten. Holte die Flasche aus seiner Brusttasche, der Tasche über seinem Herzen, sein Herzenswunsch. Er hielt sie schräg und ließ sich den Whiskey in die Kehle laufen. Das lange Aufatmen war größtenteils Erleichterung, ein wenig Lust.
    »Laß die Tür offen«, sagte er zu Loyal. Vom Innern des dunklen Blockhauses aus war der Türrahmen von einer goldenen Landschaft erfüllt. Der Wind wehte feuerfarben.
    »Trink was. Du bist so weit mit mir gegangen, daß du jetzt genausogut die ganze Strecke mitkommen kannst. Eine Art Meilenstein. Ich hab’ bis zu diesem Jahr nie jemanden gebraucht, der mich aufliest. Die Uhr läuft ab.« Beim Eingießen war die knorrige Hand ruhiger, als Loyal sie seit Wochen gesehen hatte, der blaue Fleck vom Hammerschlag auf die Finger war jetzt lila. Trinkt, um sich im Gleichgewicht zu halten, dachte Loyal. Der Wind zerrte an der Brettertür.
    Holzboden, Holzwände, ein Tisch, eine Bank, ein Stuhl, ein paar angeschlagene Marmeladengläser und Teetassen. Keine Betten. Einfach im Schlafsack auf dem Boden zusammenrollen oder umfallen und wegtreten, wo man lag.
    Ben starrte durch die offene Tür auf das wogende Gras, die Felsen und Staubgespenster; vielleicht prägte er sich den Horizont ein, die zerklüfteten Berge oder die Wolken, die weißen Flammen aus einem himmlischen Brenner glichen. Ein Hochdruckkeil bewegte sich auf sie zu. Er saß auf der Bank, lehnte sich auf den Tisch. Beim Hinausschauen schenkte er sich immer wieder ein, er trank, ins Glas lächelnd, sagte, daß der Wind stärker werde, redete mit Loyal, dann mit sich selbst und trank immer noch, inzwischen langsam, schlürfte wohlerwogene Schlucke in einer Menge, die er als die richtige kannte. Die lästigen Bande lösten sich. Der Wind ächzte.
    »Weißt du«, sagte er, »man kann sich so an die Stille gewöhnen, daß es weh tut, wenn man wieder Musik hört.« Durch den Wind hindurch konnte Loyal sich an keine Musik erinnern, die er jemals gehört hatte. Der Wind wurde zu aller Musik seit Anbeginn der Welt. Er ließ keine musikalischen Erinnerungen zu. Loyal versuchte sich an die Melodie von »Home on the Range« zu erinnern, aber der Wind nahm alles fort. Er heulte mit drei verschiedenen Stimmen zugleich, pfiff an den Ecken des Blockhauses durch die Zähne, um den Holzstapel herum und in die Nacht davon und wieder zurück in einem großen, stöhnenden Kreis.
    Ben schüttete Whiskey in ein gesprungenes Glas.
    »And the skies are not cloudy all day«, summte Loyal vor sich hin, der trostlosen Melodie des Windes folgend.
    »Ich bin ein Relikt einer aussterbenden Spezies, der Amateurastronomen.« Eine Stimme wie ein Donnerschlag. »Ich gehöre keiner Universität. Ich bin nicht darauf angewiesen, Artikel voll unverständlicher mathematischer Formeln zu veröffentlichen, um im Leben weiterzukommen. Ich gehe nicht zu den Versammlungen des Nationalen Astronomenverbands. Aber ich zahle! Ich zahle einen Preis dafür, daß ich frei denken darf! Man läßt mich an kein großes Teleskop! Mein Amateurstatus schließt mich von den großen aus! Selbst die Akademiker stehen jahrelang Schlange, um sie benutzen zu dürfen. Ich gebe mich mit dem zufrieden, was ich kriegen kann, und sie nicht. Und ich habe

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