PR 2627 – Die letzten Tage der GEMMA FRISIUS
Verderben, nach Gefahr und Angst. Ich darf mich nicht ablenken lassen.
Curi Fecen winkt mich zu sich. Hin zu einem Bereich unmittelbar hinter dem Pilotensitz, der durch verfestigtes Schmelzharz fast vollständig vom Rest der Zentrale abgetrennt ist. Ich muss mich strecken, um zu sehen, was dahinter verborgen liegt.
Der Captain wirkt völlig gelassen. Doch er kann mich nicht täuschen. Seine Hände zittern, als er auf die Toten deutet.
Sie liegen da wie aufgebahrt, nebeneinander und übereinander. Vier Männer, fünf Frauen. Allesamt tragen sie ihre SERUNS, die Folienfalthelme sind eingefahren. Etwas abseits sehe ich die Leiche eines Blue. Sein Halsmund ist weit geöffnet. Er wurde von einem ... Strang des Schmelzharzes durchbohrt.
Sichu, die sich sonst so ungerührt gibt, wendet sich ab. Ich bleibe stehen und bemühe mich, die vorwurfsvoll wirkenden Blicke aus den Augen der Toten zu ignorieren.
»Aillyr«, lese ich vom Namensschild des Blue ab. »Wie ist deine Geschichte? Was hat man dir angetan?«
6.
GEMMA FRISIUS
3. September 1469 NGZ
Kleber 37 und Beißer 37 werden sich schnell einig. Der stetige Widerstand der Organismen muss radikal unterbunden werden. Eine Flucht dieser Geschöpfe ist keine Option.
Sie beschließen eine weitere Reduktion des Mannschaftsbestandes. Eine derartige Abschreckung hat sich stets als probates Mittel erwiesen.
Die Übernahme der Maschinen ist mittlerweile weit fortgeschritten; auch die Eroberung der Rechner erfolgt im vorgesehenen Zeitrahmen.
Bald ist es Zeit, sich auf den Weg zu machen. Blütenblatt 37 hat eine Aufgabe zu erfüllen.
*
David erwachte. Er gähnte, reckte und streckte sich, drehte sich zur Seite und zog die Decke über seine Schultern.
»Misty ...«, flüsterte er und tastete nach seiner Frau. Nach jener, die ihn die Schrecken seiner ersten Ehe mit Famke allmählich vergessen ließ.
Die Decke gab sich widerspenstig. Sosehr David auch zog und zerrte – sie wollte sich nicht bewegen lassen. Und der Platz neben ihm war leer. Misty musste bereits aufgestanden sein, um dem Haushalts-Roboter Anweisungen für ein frugales Frühstück zu geben.
Er öffnete die Augen. Er fühlte sich seltsam beengt, sein Mund war trocken. Und was er sah, entsprach keinesfalls seiner Vorstellung von einem geordneten Haushalt in einem Warschauer Cottage-Viertel.
Die Erinnerung kehrte mit brutaler Vehemenz zurück. Er wusste wieder, wer er war und wo er war. Die Reminiszenz an einen beschaulichen Sonntagmorgen in geordneten Familienverhältnissen machte der Wirklichkeit Platz. Rasch drängte er die Gedanken an seine zweite Frau beiseite.
Mehrere Metallstreben der Shift-Innenverkleidung waren herabgebrochen und hatten eine Art Höhle geschaffen, in der er nun lag. Rings um ihn befanden sich gesplitterte und geschmolzene Kunststoffe, Werkzeug, weithin verteilte Lebensmittelpackungen, ein umgestürzter Schrank samt Inhalt, bestehend aus unzähligen Speicherkristallen, Schriften und Gegenständen des täglichen Gebrauchs. David war von weißer, pastöser Masse bedeckt. Beinahe hätte er gelacht, als er die zerborstene Tube Kondensmilch entdeckte, deren Inhalt sich über seinem Schutzanzug verteilt hatte.
Er befand sich im hintersten Bereich des Shifts; beziehungsweise war er unter dem verborgen, was von dem Fahrzeug übrig geblieben war.
»Ich lebe noch«, flüsterte David und saugte gierig am Wasserschlauch seines Anzugs. »Ich lebe noch.«
War es Zufall? Schicksal? Hatten ihn die TARAS von 37 etwa übersehen?
Unwahrscheinlich. Die im Ortungskopf integrierten Messgeräte der Maschinen hatten gewiss seine Vitalwerte angemessen. Welchem Umstand verdankte er also sein Überleben?
Er vernahm ein seltsames, ein unheimliches Geräusch. Ein Schmatzen, das er in letzter Zeit viel zu oft gehört hatte.
David kam leise auf die Knie und quetschte sich durch die Lücke seiner Höhle. Er richtete sich auf, wischte Kondensmilch vom Anzug und kletterte so leise wie möglich über den herabgekrachten Waffenturm aufs Dach des Fahrzeugs. Er schob sich vorwärts, hin zum Heck, und lugte angespannt über die Dachkante.
Die TARAS waren nirgends zu sehen. Der Shift war von Bächen schillernder Flüssigkeit umgeben. Sie vereinten sich, wuchsen zu reißenden Flüssen an, trennten sich wieder, wie magnetisch voneinander angezogen oder abgestoßen. Es war ein Vorgang voll Grazie und Harmonie, dem David unter anderen Umständen stundenlang hätte zusehen können. Die zähflüssige Masse
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