PR NEO 0039 – Der König von Chittagong
zurück und hielt die Nachdrängenden für weitere Sekunden auf. »Hinter den Hütten warten Halbwüchsige. Ich kann sie sehen. Sie und ihre Messer.«
Kakuta fühlte Wut hochsteigen. Sie waren auf der Suche, und sie wollten helfen! Warum überfiel man sie, warum wollte man sie verletzen oder töten? Was hatten sie den Bewohnern dieses Elendsviertels bloß getan?
Wir tragen Kleidung. Wir besitzen Bildung. Wir können diesen Ort jederzeit verlassen. Wir hatten heute eine warme Mahlzeit, tranken sauberes Wasser, konnten uns waschen. Durften uns auf den Tag freuen, ohne Angst um unser Überleben haben zu müssen. – Braucht es denn noch mehr Gründe, um uns zu beneiden?
Wuriu Sengu setzte sich in Bewegung, auf jene Lücke zu, die er erspäht hatte. Sehr zur Enttäuschung ihrer Verfolgerinnen. Die Frauen kreischten und fluchten, schleuderten Steine und andere Dinge in ihre Richtung, liefen ihnen hinterher – und gaben auf, sobald sie beide durch ein Loch eines Verschlags gestiegen waren, das ihnen ein Entkommen in einen anderen Teil des städtischen Durcheinanders von Chittagong gewährleistete.
Nur zwei der Frauen waren mutig genug, ihnen nachzuschlüpfen. Doch auch sie wirkten unentschlossen. Verängstigt überblickten sie das ungewohnte Terrain und zogen sich rasch wieder zurück. Hier verlief womöglich eine Grenze, die sie nicht überschreiten durften.
Kakuta blieb in sicherem Abstand zu den beiden Furien stehen und hieß Sengu, ebenfalls anzuhalten. »Warum ausgerechnet die Frauen?«, fragte er.
»Sie sind die letzten und schwächsten Mitglieder in einer Hierarchie der Armut«, sagte sein Begleiter keuchend. »Sie hungern. Sie schützen sich selbst in der Gruppe. Machen untereinander Geschäfte, die sonst den Männern vorbehalten sind. Oder aber sie sehen eine Chance, unkompliziert an zwei große Portionen Frischfleisch zu gelangen.«
»Du redest von Kannibalismus? Das kann wohl nur ein Scherz sein.«
»Vielleicht.« Sengu wirkte blass. Das sonst so freundliche, pausbäckige Lächeln, das er gern zeigte, wollte nicht gelingen.
Hatte er dank seines Spähblicks etwas gesehen, was er Kakuta nun vorenthielt? Um ihn, den Freund, zu schonen?
»Wir sind auf der Suche nach Sandhya keinen Schritt weiter«, sagte Kakuta, um das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. Er entdeckte zwei Jugendliche, die das sattsam bekannte Smiley-Symbol auf die Oberarme tätowiert hatten. Sie grüßten freundlich nach links und rechts. »Wir müssen jemanden um Hilfe bitten. Oder aber wir hauen auf den Busch.«
»Du möchtest Gewalt anwenden?«
»Ich möchte unsere Überredungskünste anwenden.«
»Du argumentierst mit Spitzfindigkeiten.«
Sie redeten, um sich vom eben erst erlittenen Schrecken abzulenken. Die Frauen ... sie waren wie Furien über sie hergefallen. Trotz all ihrer Vorsicht wären Sengu und er beinahe in einen Hinterhalt geraten.
Der Pod sprach an. Kakuta betrachtete den Stadtplan. Sie befanden sich in Süd-Halishahar, einem Viertel, das früher einmal dem Handel vorbehalten gewesen war. Halishahar war sauberer als jener Bezirk, den sie eben verlassen hatten. Es roch kaum nach Exkrementen, und einige Hütten besaßen sogar ein festes Fundament. Eine gepflasterte Straße, die Gafur Road, führte zu einer der südlichsten Abrisswerften der Stadt hinab. Läden links und rechts boten technische Gimmicks an, die einstmals in privaten Haushalten Verwendung gefunden hatten.
Hier lagen Handys übereinandergestapelt, die bereits vor zwanzig Jahren aus der Mode gekommen waren. Dort hatte man Akkus aller Art in eine Schütte geschmissen, gleich daneben rosteten Rechnergehäuse vor sich hin. Undefinierbare Bestandteile, Kabel, Gebläse, Festplatten, Rechner. Vietnamesische Pods aus Billigfertigung, deren Gehäuse von miserabler Qualität waren. Elektronische Spielsachen aus den Kinderfabriken Birmas, Stofffiguren aus Pakistan, islamische Kalender mit den Gebetsterminen der letzten Jahre.
Kondensatoren, die das immens wertvolle Metall Tantal enthielten, waren nirgends zu sehen; auch Kupferdrähte fehlten. Kakuta erinnerte sich an die Liste jener Hightechgeräte, die er in seiner Kindheit rings um Fukushima wegen ihrer wertvollen Metalle gestohlen und zerlegt hatte: Fotovoltaik-Elemente wegen des darin verwendeten Indiums und Galliums. Solarzellen wegen des Germaniums. Katalysatoren und beschichtete Elemente in der Hochindustrie wegen des Rhodiums. Niob. Kobalt. Palladium. Mangan ...
Er hatte früh gelernt, dass manche
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