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PR NEO 0046 – Am Rand des Abgrunds

PR NEO 0046 – Am Rand des Abgrunds

Titel: PR NEO 0046 – Am Rand des Abgrunds Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verena Themsen
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wieder ab. Ein Teil der Seitenwand gegenüber dem Publikum aus gefangenen Menschen glitt zurück. Mahesh löste seinen Blick von Sharmila, um sich der neuen Öffnung zuzuwenden. Und wich zurück.
    Hinter der Trennwand waberte Dunkelheit. Sie pulsierte, streckte Pseudopodien in den Raum, die den Boden vor der Tür und die Innenseite der Wand abtasteten. Wie wellendurchflossene Schwärze schob das Wesen sich durch die Öffnung, glitt noch ein Stück weiter und verharrte dann, eine schwarze Masse von undefinierbarer, in ständiger Bewegung befindlicher Form, ungefähr so hoch wie Mahesh. Die Wand hinter dem seltsamen Wesen schloss sich. Wieder entstanden Beulen auf der Oberfläche des Wesens und entwickelten sich zu Auswüchsen, die die Luft abtasteten.
    »Mahesh!«
    Die leise Stimme in seinem Rücken ließ ihn herumfahren. Ohne es zu bemerken, war er bis an die Trennwand zurückgewichen. Sharmila stand hinter ihm, die Hände an das durchsichtige Material gepresst.
    Ich kann sie hören. Sie kann mich hören. Die letzte Gelegenheit, miteinander zu reden ...
    Er legte seine Hände dorthin, wo auf der anderen Seite ihre waren, und sah sie an. Er atmete durch, suchte nach Worten, die nicht abgedroschen waren. Schließlich entschied er sich für die einzige Art, auf die er immer gerne geredet hatte. Er rundete die Lippen und formte Laute – den Rhythmus zum Beatbox-Manipuri ihres ersten Abends.
    Sharmila sah ihn einen Moment nur an. Dann reckte sie ihre Gestalt, löste sich von der Wand und trat einen kleinen Schritt zurück. Sie hob die Hände, trat nacheinander mit beiden Füßen auf, lächelte mit weiten Augen und fing zu tanzen an.
    Die anderen Menschen wichen zurück, machten ihr Raum und sahen von ihr zu Hélder. Ein groß gewachsener blonder Kerl klatschte den Rhythmus mit. Andere fielen ein. Hélder wechselte die Instrumente, wie sie es immer wieder geübt hatten, gab Sharmila die Melodie, zu der sie ihren Körper wiegte und drehte, den Kopf bewegte und mit den Augen rollte, während andere den Takt für das Auftreten ihrer Füße klatschten.
    Es war ihr Auftritt, ihr Lied. Ihre Show.
    Er sah sie stocken, sah es in ihren Augen kommen und fuhr herum. Hinter ihm ragte die Dunkelheit wie eine Wand auf und streckte ihre Arme nach ihm aus.
    Nicht hier! Nicht vor ihren Augen!
    Mit einer reflexgesteuerten Geschwindigkeit, an die er selbst nicht geglaubt hätte, zuckte er weg und rannte los. Die Menschen hämmerten gegen die Trennwand, riefen ihm Mut zu, während er an ihren Reihen entlangsprintete. Er spürte einen Luftzug, duckte sich und sah einen langen schwarzen Rüssel über sich hinwegzischen. Er umrundete das Biest. Es hatte keinen Rücken und musste sich nicht umdrehen, um weiter nach ihm zu greifen. Es beherrschte die Szene, aufgewölbt wie eine nachtschwarze Tsunamiwelle. Als er die andere Seite des Raumes erreicht hatte, stürzte sie auf ihn herunter, wölbte sich um ihn und schloss ihn ein.
    Die Berührung war erstaunlich sanft, fast zärtlich. Das Wesen umschlang ihn wie ein seidener Sari, legte sich über und um ihn, bedeckte jeden Teil seines Körpers wie ein vielarmiger Liebhaber bei der Umarmung.
    Dann kam das Brennen. Hélder wollte schreien, doch da war keine Luft mehr dafür. Sein ganzer Körper schien für endlos lange Augenblicke in Flammen zu stehen. Aber auch das ging vorbei, als die Nerven aufgaben.
    Plötzlich sah er seine Schwester und seine Mutter. Er wollte seine Hände nach ihnen ausstrecken, doch plötzlich waren sie fort, und er erinnerte sich nicht mehr. Er sah Sangam vor der Festung tanzen, und Neeraj führte ihn erneut in die Kunst der Liebe ein. Der Lärm der Scooter auf den Straßen überfiel ihn, erstickende Schwüle und bittere Kälte, die Stände der Straßenhändler, die glosenden Müllhalden, New York aus der Luft, vor dem Bürgerkrieg. Bilder, Gerüche, Eindrücke schossen durch seinen Geist und lösten sich auf, unsortiert, in bunten Blitzen.
    Er spürte, wie die Nacht sie aufsog und sich daran nährte, wie sie seine Erinnerungen und all seine Träume und Wünsche genoss und weitere forderte. Er versuchte, daran festzuhalten, sie nicht aufzugeben. Es war sinnlos. Bild um Bild, Moment um Moment wurde ihm entrissen. Ein Lachen, das Quietschen von Bremsen, der Gestank der Müllhalden ... fort. Alles strömte, floss, tröpfelte aus ihm heraus.
    Schließlich war da nur noch Leere und die endlose Nacht.
    Hélder starb.
     
    Stiqs Bahroff starrte auf den angespannten Rücken seines

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