PR NEO 0046 – Am Rand des Abgrunds
hätte er auch fragen sollen, wenn sie ihm doch nichts zu bieten hatte, was er in seiner Position nicht zweifellos ohnehin jederzeit haben konnte? Sie glaubte nicht, dass es irgendwen geschert hätte, was mit ihr in dem Verhörraum geschah – eine Folter oder die andere, was machte es für einen Unterschied?
Vor allem, da sie ohnehin alle Todgeweihte waren.
Seit der offenen Bestätigung von Atus Einschätzung fühlte Sharmila sich wie innerlich eingefroren. Selbst wenn sie Mahesh für den Moment gerettet hätte, wäre es nur ein Aufschub gewesen. Es gab keine Rettung – außer vielleicht auf Atus Weise. Der Ghanaer hatte recht, es war besser, im Kampf zu sterben als so, wie es ihnen zugedacht war: einer nach dem anderen von diesem Biest aufgefressen.
Die Gefangenen wurden eben aus dem Speisesaal geleitet. Sarah und Atu hatten offensichtlich bis zuletzt gewartet. Sie nahmen Sharmila in Empfang, als die Wachen sie mit einem Stoß aufforderten, sich wieder der Gruppe anzuschließen.
»Wo warst du?«, wisperte Sarah und legte einen Arm um Sharmila. »Und was um Himmels willen ist mit dir passiert? Du siehst aus wie ... Was haben sie mit dir gemacht?«
Sharmila lehnte sich in Sarahs Arm. Sie hatte Angst, dass ihre Knie nachgeben würden, wenn sie zu viel über das nachdachte, was sie erfahren hatte.
»Nichts«, sagte sie. »Ich habe nur versucht, mit ihnen zu reden. Aber es hat nichts genutzt. Sie ... Atu hat recht. Sie werden uns alle umbringen.« Stockend berichtete sie, was sie von dem Mann mit dem Federschopf erfahren hatte.
Atu ballte die Hände zu Fäusten. »Dann kämpfen wir«, zischte er. Mit seinen breiten Händen schob er die zwei vor ihm Gehenden zur Seite und drängte sich an ihnen vorbei vorwärts. Sharmila verlor ihn sofort zwischen all den größeren Leidensgenossen aus den Augen, als die Reihen sich wieder schlossen.
»Verdammt«, murmelte Sarah. »Wir haben doch keine Chance, mit bloßen Händen und so geschwächt, wie wir sind.«
»Täusch dich nicht! Atu ist Kickboxer und weiß bestimmt auch, wer von den anderen irgendeine Kampfsportart beherrscht. Womöglich kann man die Wachen damit überraschen. So etwas kennt man in deren Kultur vielleicht gar nicht mehr.«
»Trotzdem ist es Wahnsinn.«
Sharmila lächelte schwach und lehnte den Kopf an Sarahs Schulter. »Was haben wir schon zu verlieren?«, fragte sie. »Ein paar Tage oder Wochen, in denen wir hilflos zuschauen müssen, wie alle um uns herum zum Sterben weggeholt werden. Ich kann Atu verstehen. Mir reicht es auch. Wenn Mahesh tot ist, gibt es für mich keinen Grund mehr, auf ein paar Tage Weiterleben und ein Wunder zu hoffen. Und es sieht nicht so aus, als wäre heute noch ein Wunder zu erwarten, für das wir nicht selbst gesorgt haben.«
Sarah schüttelte den Kopf. »Also ich werde mich da raushalten. Das ist Selbstmord.«
»Wir können ohnehin nicht helfen. Meine Art zu tanzen ist nicht geeignet, zum Kampf eingesetzt zu werden, und bei dir sieht es auch nicht besser aus, oder?«
»Ist nicht so, als hätte ich eine Violine, die ich irgendjemandem über den Kopf schlagen könnte«, stellte Sarah fest. »Das Beste wird wohl sein, wir halten uns da raus.«
Wie immer nach dem Essen wurden sie in eine riesige Halle geführt, in der sie auf Laufbändern zu laufen hatten und danach ein wenig Zeit für freie Bewegung hatten. Es kam Sharmila widersinnig vor, dass man so um ihre körperliche Gesundheit bemüht war. Aber vermutlich war es für die Befragungsmethoden, die hier angewendet wurden, besser, wenn man in guter Verfassung war.
Sie hatte nicht weiter darüber nachgedacht und die Zeiten oft genutzt, um zu tanzen – und Zeichen mit Mahesh auszutauschen, wenn keiner hinsah. Nicht einmal hier hatten sie offen eingestehen können, was zwischen ihnen zu wachsen begonnen hatte. Zu viele offensichtliche Paare waren gleich zu Beginn der Gefangenschaft weggebracht worden, und immer wieder war nur einer von beiden als gebrochener Mensch zurückgekehrt.
Es ging los, als sie die Bänder verließen. Von einem Moment auf den anderen war die Halle mit lautem Geschrei erfüllt. Sharmila wurde zur Seite gestoßen. Drei Männer und zwei Frauen rannten los, sprangen auf einen der Wärter zu und rangen ihn nieder, noch ehe er seinen Schockstab ziehen konnte. Einer riss ihm den Helm vom Kopf und schlug ihn damit bewusstlos. Eine der Frauen war inzwischen schon mit dem Schockstab losgelaufen, um der nächsten Gruppe beizustehen. Sharmila war zu klein,
Weitere Kostenlose Bücher