PR NEO 0046 – Am Rand des Abgrunds
»In manchen Gebieten, ja«, antwortete er. »Ich habe viel Zeit in einer Wüste zugebracht. Dort wirken die Sterne in manchen Nächten zum Greifen nah.«
»Ich dachte, Ihr ganzer Planet ist Wüste?«
Rhodan schüttelte den Kopf. »Nicht dort, wo wir ihn kultiviert haben«, antwortete er. »Aber es sind genug Wüsteninseln zurückgeblieben.«
Und manch neue hinzugekommen, setzte er für sich hinzu. Aber über denen sieht man die Sterne nicht.
Khe'Rhil machte eine dezente Handbewegung in Richtung von Goratschin und Matsu. »Sie und Ihre beiden Freunde dort hinten haben noch den Sinn für die Wunder des Universums, Sirran Taleh. Bewahren Sie sich das, solange Sie noch können. – Und jetzt kommen Sie. Anetis wartet.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging Khe'Rhil auf eines der Laufbänder zu. Rhodan und Chabalh folgten ihm. Die anderen schlossen sich ihnen an, als sie an ihnen vorbeikamen.
Der Blick hinunter in die Halle zeigte einen nachtschwarzen Boden, in den unzählige Leuchtpunkte eingelassen waren. Dieses Mal waren sie aber nicht wie eine Galaxis angeordnet, sondern erinnerten eher an einen Sternhaufen. Womöglich sollten sie Thantur-Lok darstellen, das Ziel jeglichen Sprunges über den Abgrund, der von Hela Ariela aus erfolgte. Wie weitere bunte Sterne hatten sich die Gäste darüber verteilt.
»Viele kommen vor dem Sprung, weil sie sich eine sicherere Reise erhoffen, wenn Anetis sie gesehen hat«, sagte Khe'Rhil. »Nur wenige kommen hinterher, um sich zu bedanken. Das zeugt von der Wertschätzung, die alle Hilfe in der Welt erfährt.«
Rhodan nickte nur. Was sollte man auch dazu sagen? Einige Dinge waren wohl überall gleich.
In der Mitte der Halle stand ein schwarzes Podest mit Stufen ringsherum. Ein mehrere Meter durchmessender schwarzer Säulenstumpf ragte in der Mitte auf und endete knapp unter der Höhe der Galerie. Während das Podest den matten Schimmer von poliertem Marmor hatte, wirkte die Säule eher wie etwas, das alles Licht aus der Umgebung in sich aufsog und verschluckte. Rhodan empfand sie wie eine stille Bedrohung inmitten der harmonischen Umgebung. Er spürte, wie die Härchen auf seinem Arm sich aufstellten, während er es betrachtete.
»Was ist das?«, fragte er. Unwillkürlich hatte er die Frage geflüstert.
»Es ist das Sanktuarium, Anetis' Ruheort«, antwortete Khe'Rhil. »Oder, zu anderen Zeiten, seine Empfangshalle.«
»Empfangshalle?«
»Sie werden sehen.«
Den Rest des Weges nach unten schwieg der Lotse. Rhodan schaute zu Belinkhar, doch sie war ebenso gefangen von der Umgebung wie er. Es wirkte nicht, als habe sie mehr Ahnung, was kommen würde.
In der Halle führte Khe'Rhil die Gruppe zwischen den locker verteilten Besuchern bis auf wenige Meter an das Podest heran. Ein Ring von Lotsen stand auf den Stufen. Rhodan vermutete, dass sie verhindern sollten, dass jemand zur Säule hinaufstieg.
»Wie lange ...«, setzte er gerade zu einer Frage an, als Khe'Rhil die Hand hob. Das Licht in der Halle ließ nach, und die Gespräche ringsherum verstummten. Nur das gelegentliche Rascheln von Stoff oder das Scharren eines Fußes auf dem Boden verriet noch die Menge von Leuten, die anwesend waren.
Aus dem Nichts erschien eine Gestalt auf dem Podest. Rhodan fragte sich gerade, ob er aus der Säule herausgetreten war, als Belinkhar sich zu ihm beugte.
»Netzhautprojektion«, flüsterte sie und deutete auf einen winzigen Punkt, der vor ihnen in der Luft schwebte. In dem schwachen Dämmerlicht hatte er ihn nicht bemerkt. Es musste eine Art Drohne sein, mit der die Projektion vorgenommen wurde. Unzählige davon mussten in der ganzen Halle ausgeschwärmt sein, um dafür zu sorgen, dass jeder in der runden Halle das Gleiche sah – an völlig verschiedenen Stellen der zentralen Säule.
Rhodan wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem projizierten Khe'Mha'Thir zu, der in Wirklichkeit vielleicht viele Kilometer entfernt vor einer Aufnahmeoptik stand – wenn es nicht sogar nur eine Aufzeichnung war. Außer dem typischen hautengen schwarzen Overall trug er ein silbernes Stirnband und einen silbernen Gürtel. Auf seiner Brust prangte ein Medaillon, das in einem dünnen Silberring jedoch nur Leere zeigte. Er streifte die Kette über seinen Kopf, spannte sie zwischen seinen Händen und hob sie an, sodass das Schwarz der Säule durch den Ring schimmerte.
»Aus der Leere entsteht das Sein, und alles Sein strebt in die Leere«, intonierte er mit schneidender, im ganzen Saal widerhallender Stimme.
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