PR NEO 0050 – Rhodans Weg
Handschrift: Für Doktor Haggard. Von Doktor Haggard.
Mercant sah zu Iga. Die Truckerin stand verloren in der Büroetage. Sie war eine Macherin. Wenn sie nichts zu tun hatte, fühlte sie sich nicht wohl in ihrer Haut. Mercant hatte eine Aufgabe für sie.
»Iga?«
»Was gibt es?«
»Ich brauche ein Publikum.«
»Klar.« Sie blieb drei, vier Meter vor ihm stehen. »Ist es so recht?«
Mercant betrachtete die Frau, die er liebte.
»Gut so?«, fragte sie.
»Ja«, antwortete er. Dann kam ihm ein Gedanke. »Nein. Noch was. Um mit den Worten unseres alten Freundes Pounders zu sprechen: ›Lächeln Sie, Miss Tulodzieky! Verdammt, lächeln Sie!‹«
Sie tat es.
Mercant räusperte sich, blickte fragend in die Richtung von Adams. Der Administrator antwortete mit einem »Daumen hoch!«-Zeichen.
»Mutanten!«, begann der ehemalige Agent. »Ihr kennt mich – zumindest glaubt ihr das. Ich bin Allan D. Mercant, Koordinator für Sicherheit der Terranischen Union. Ich war es, der den Befehl gegeben hat, das Lakeside Institute zu evakuieren. Der angeordnet hat, euch unter Quarantäne zu stellen. Der die Mutanten, die sich überall auf der Erde zeigen, jagen und betäuben lässt.«
Er schwieg. Iga lächelte breiter, nickte ihm aufmunternd zu.
»Die letzten Tage waren furchtbar. Sie haben viele Opfer gekostet. Unser Freund Tako Kakuta ist tot. Viele andere Mutanten starben, viele weitere Menschen. Aber neben diesen, von denen jeder Einzelne unersetzbar ist, starb noch etwas: das Vertrauen der Mutanten – euer Vertrauen – in die Menschheit. Auch das ist ein Verlust, der schwer wieder wettzumachen ist.«
Mercant senkte den Kopf für einen Moment wie in Trauer. Dann fuhr er fort: »Ich bedaure zutiefst, was geschehen ist. Ich wünschte, es wäre nicht geschehen. Und dennoch: Wenn ich wieder vor der Wahl stünde, ich würde mich wieder so entscheiden. Denn tatsächlich blieb mir keine Wahl. Um euer Wohl, um das Wohl der Menschheit willen.«
Mercant steckte den Zettel weg. Er brauchte ihn nicht mehr. Stattdessen holte er den Briefumschlag hervor und hielt ihn so, dass Iga lesen konnte, was auf seinem Umschlag stand – und somit auch die Mutanten, hoffte er.
»Dieser Brief ließ mir keine Wahl. Er ist geschrieben von Doktor Frank Haggard – und adressiert an Doktor Frank Haggard. Ihr alle kennt Frank, dessen Durchbrüche im Kampf gegen das HI-Virus unzähligen Menschen das Leben gerettet haben. Frank hat diesen Brief von dem sterbenden André Noir erhalten. Noir behauptete von sich, Menschen und Gegenstände zwischen Alternativuniversen austauschen zu können. Er nannte sich ›Changeur‹. Und er nutzte seine Gabe, um uns diesen Brief zu überbringen – aus einem Alternativuniversum, in dem ein anderer Frank Haggard existiert. Ich werde euch diesen Brief jetzt vorlesen.«
Mercant öffnete den Umschlag, entfaltete das Blatt, das sich darin befand.
»Frank ... oder sollte ich Bruder sagen? Ich schreibe diese Zeilen auf dringende Bitte von André Noir. Unser gemeinsamer Freund mit der wundersamen Gabe berichtet mir, dass sämtliche Menschen mit einer Paragabe in Not sind – in Deinem Universum, das dem meinen bis auf wenige, aber in ihrer Konsequenz erhebliche Unterschiede gleicht.
Einer davon ist der Stand der Virologie. Die weiteren Unterschiede, die mich brennend interessieren, will André mir nicht verraten, um die Integrität meiner Realität nicht zu gefährden. Ach, du kennst ja André, selbstlos und übervorsichtig wie eh und je ...
André sagte mir, dass auch Du den Nobelpreis für Medizin gewonnen hast. Meinen Glückwunsch, Bruder! Doch offenbar hat Dich das Leben auf andere Wege geführt. André munkelte etwas von einem Rugby-Match, auf das Deine ganze Welt hingefiebert hat. Ich vermute, dass Du wahr gemacht hast, was ich mir in meinem Universum nur erträume: Rugby-Coach geworden zu sein.
Wie auch immer. Die Mutanten, sagt André, werden von einem Virus bedroht, das das manipuliert, was man bis vor einigen Jahren als Junk-DNA bezeichnet hat. Mit unabsehbaren Konsequenzen. Er sagt, das Virus schalte in den Betroffenen parapsychologische Gaben frei, die sie selbst und alle Übrigen bedrohen.
Deine Mutanten sind wehrlos gegen dieses Virus, das sie die Kontrolle über sich selbst verlieren lässt. Ihre Paragaben ändern sich, schlagen unkontrolliert los ... Ich weiß inzwischen mehr darüber, dazu gleich. Nur eins vorab: Die Mutanten Deiner Welt werden schon bald Amok laufen.
Doch hab keine Angst, Bruder
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