PR TB 095 Die Spur Des Gehetzten
Jagellon hierher?«
Sie schüttelte den Kopf und sagte leise:
»Nein, ich lebe hier. Jagellon verliebte sich in mich, als
er mich zum erstenmal sah. «
Ich reichte ihr einen Becher, den ich von einem herumgereichten
Tablett nahm und erwiderte: »Heiraten, das heißt,
Nachtigallen zu Hausvögeln zu machen.«
»Ich glaube nicht, daß wir heiraten«, sagte sie
und lächelte schelmisch. »Jagellon ist unstet.«
Ich zwinkerte.
»Es kommt mir vor, als fühle er sich verfolgt. Er
fürchtet zwar nicht die Pest, aber andere Dinge und Mächte.
Könnt Ihr ihm nicht helfen, Schönste?«
Sie schüttelte den Kopf. Erst jetzt, ganz aus der Nähe
und im Licht vieler Kerzenflammen, sah ich, daß ihre
auffallende Schönheit vulgär und derb war; aber durch
geschicktes Schminken, die Haartracht und die ausgeschnittene
Kleidung rief das Mädchen den Eindruck hervor, begehrenswert zu
sein. Außerdem war sie nicht mehr jung, wie die Falten in en
Augenwinkeln bewiesen.
»Ich kann ihm nicht helfen. Er läßt sich nicht
helfen, weil er mißtrauisch ist. Und ich fürchte mich vor
der Pest.«
»Jeder hat allemal etwas, wovor er sich fürchtet«,
sagte ich und fügte mit Bestimmtheit hinzu: »Ihr werdet
niemals pestkrank werden, Schönste. Werdet Ihr mit ihm reisen,
wenn er Bordeaux verläßt?«
Sie zog die Schultern hoch, trank einen Schluck und antwortete
leichthin:
»Nein, sicherlich nicht. Er kam unbemerkt und ohne Troß,
und so wird er wohl auch wieder gehen. Für mich - das Gold!«
Sie schnippte mit den Fingern, ließ mich stehen und ging zu
einer anderen Gruppe. Die Musiker spielten auffallend laut und
schnell. Die grobschlächtigen Knechte Jagellons servierten Wein
und Braten, die Gäste aßen und tranken und unterhielten
sich laut und hektisch. Kerzenflammen flackerten, die Hitze aus dem
Kamin nahm zu, und sowohl Alexandra als auch ich begannen, uns
unbehaglich zu fühlen. Ich lehnte mich gegen eine Wand,
betrachtete die Szene, die aus einer gemalten Miniatur eines
Stundenbuches zu stammen schienen. Ich versuchte, mein Mißbehagen
zu analysieren.
Es gibt keine Anhaltspunkte, sagte der Extrasinn.
Ich verfolgte Jagellon mit Blicken. Er wirkte heute besonders
unstet und zerstreut.
Er war abgesetzt worden und fürchtete sich vor diesem
Augenblick an. Das konnte bedeuten,
daß- er ein Machthaber war, der sich eine Zeitlang verbergen
mußte. Er hatte zu befürchten, daß ihn politische
oder persönliche Gegner töteten.
Die Theorie klingt vernünftig, kommentierte der Extrasinn.
Warum aber versteckte er sich dann mitten unter Pestkranken? Ich
überlegte, aber kam zu keinem vernünftigen Schluß.
Als einer der Knechte an mir vorbeiging, streckte ich die Hand aus
und hielt ihn auf.
»Wein, Herr?« fragte er undeutlich.
Seine Augen glänzten gespenstisch, und sein Atem ging
pfeifend. Er schien die Zunge nicht richtig bewegen zu können,
und während er mich ansah, verfärbten sich seine Lippen und
wurden wachsbleich, das Gesicht wurde grün.. Ich starrte ihn
verblüfft an, holte Atem und wollte etwas sagen, den Zinnbecher
in beiden Händen, als der Mann langsam in den Knien
zusammensackte: Sein Oberkörper vollführte eine groteske
Drehung um einhundertachtzig Grad. Becher und Tablett fielen zu
Boden, der Wein spritzte auf die Kleider der Umstehenden.
Schlagartig brach die Musik ab.
Das junge Mädchen, das neben mir stand, begann hysterisch zu
schreien.
»Die Pest! Sie ist unter uns!«
Ich stand einige Sekunden lang wie erstarrt da, dann handelte ich.
Um mich herum brach das Chaos aus. Grelle Dissonanzen ertönten,
als die Musiker ihre Instrumente an sich rissen und davonstürzten.
Die anderen Gäste rannten ihnen nach. Jagellon versuchte im
allgemeinen Lärm, in den Schreien und dem Geräusch
brechenden Holzes und kollernder Becher, jemanden aufzuhalten, aber
er wurde an die Wand gedrückt und zur Seite geschoben. Binnen
weniger Augenblicke waren die Gäste verschwunden. Auch die
Knechte waren davongelaufen.
Ich rief:
»Jagellon, ich helfe Euch! Ich habe ein Serum gegen die
Pest, das unter allen Umständen hilft! Keine Angst.«
Er sah mich und Alexandra aus Augen an, in denen die nackte Panik
stand. Dann schüttelte er den Kopf und murmelte:
»Sie verfolgen mich ... alle... kein Ende...«
Er blickte den zusammengebrochenen Diener an, keuchte einigemal
auf und drehte sich um. Ich sprang die Treppe hinunter, schwang mich
in den Sattel meines Pferdes und sprengte davon, durch die gewundenen
Gassen, die zur Hälfte im
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