PR TB 206 Die Energiefalle
und zeichnete mit Kohle. Ganclar grüßte Vivian
mit einem Nicken und stellte sich hinter den Maler, um ihm über
die Schulter zu sehen.
Ein Porträt dieser Art hatte Ganclar nie zuvor gesehen. Die
äußere Ähnlichkeit erschöpfte sich an ein paar
oberflächlichen Merkmalen. Von diesem Standpunkt aus waren seine
Zeichnungen erbärmlich schlecht. Was sie aber einmalig machte,
war der Ausdruck, den Buanorotti mit wenigen Strichen zu zaubern
vermochte. Ecken, Kanten, Dreiecke, schraffiert, verzogen, seltsame,
unbegreifliche Strukturen überzogen das Bild. Ganclar konnte die
Zeichnung nicht deuten, aber er verstand, daß sie in ihrer Art
absolut einmalig war.
Buanorotti selbst war nicht ansprechbar. Er arbeitete in einer Art
hypnotischer Trance. Keine einzige seiner Linien korrigierte er,
seine Hand führte die Kohle mit traumwandlerischer Sicherheit
über das Papier, und mit jedem Zug wurde das Porträt
besser.
„Fertig“, sagte Buanorotti schließlich. Er holte
tief Luft und entspannte sich. „Ich schenke es dir, Vivian.“
Das Mädchen lächelte freundlich. Buanorotti riß
das Blatt vom Block und gab es Vivian. Sie lächelte wieder, dann
drehte sie das Blatt herum, und das Lächeln gefror.
Mit Augen, die sich langsam weiteten, betrachtete Vivian ihre
Zeichnung, und ihr Gesicht verfärbte sich zu wächserner
Blässe.
„Bin ich das?“ fragte sie den Maler.
Buanorotti sah sie an.
„Ja“, sagte er. „Das bist du.“
Vivian schlug die Hände vor das Gesicht und begann leise zu
weinen.
Ganclar sah auf das Mädchen, dann auf die Zeichnung. Er
verstand nicht, warum Vivian in Tränen ausbrach - das Porträt
war unglaublich gut, unglaublich...
In diesem Augenblick wurde Ganclar die geheimnisvolle, beklemmende
Kunst des Mannes klar, den man Buanorotti nannte. Was er zeichnete,
war nicht das oberflächliche, das äußerliche Porträt.
Buanorotti brachte es dank seiner seltsamen Parabegabung fertig, das
wahre, das innere Porträt seiner Kunden zu zeichnen. Dabei war
er offenbar von erbarmungsloser Ehrlichkeit.
Buanorotti legte Vivian eine Hand auf die Schulter. Er deutete ein
Lächeln an.
„Ich finde es hübsch, Mädchen“, sagte er
leise. „Kein Grund, sich aufzuregen. Die meisten meiner Kunden
haben weit mehr Grund zur Betroffenheit.“
Vivian nickte. Sie lächelte unter Tränen, dann rollte
sie das Blatt zusammen, mit langsamen, vorsichtigen Bewegungen, als
habe sie es mit einer unersetzlichen Kostbarkeit zu tun.
Buanorotti packte seine Utensilien zusammen. Er sah Ganclar in der
Nähe, sah in fragend an.
„Du auch?“
Ganclar preßte die Lippen aufeinander.
Dann schüttelte er den Kopf.
„Nein“, sagte er. „Noch nicht.“
Buanorotti nickte verständnisvoll.
4.
Es tat gut, wieder in einem richtigen Bett zu schlafen, weiche
Federn unter sich zu spüren, keine harten hölzernen Latten.
Ganclar räkelte sich behaglich.
Es war bereits hell. Seine Uhr zeigte ihm, daß es gerade
sechs Uhr morgens war.
Um diese Zeit aufzustehen, war nicht gerade Ganclars Spezialität.
Im Gegenteil, er hatte manche wichtige Klausur an der Universität
verschlafen und nicht zuletzt deswegen sein Studium in die Länge
gezogen, bis es so fade geworden war wie drei Tage alter Kaugummi.
Ganclar überlegte zwei Minuten lang, ob er liegen bleiben
oder aufstehen sollte. Zu seiner Verwunderung entschied er sich fürs
Aufstehen, auch das ein Bruch mit liebgewordenen Traditionen.
„Junge, Junge“, murmelte er. „Dich hat es aber
übel erwischt.“
Er duschte sich ausgiebig und zog sich an. Ein Programm für
den Tag hatte er noch nicht; man würde sehen, was sich ergab.
Ganclar freute sich auf das Wiedersehen mit den Freunden auf der
Treppe.
Es war sieben, als Ganclar auf die Straße trat. Die
Geschäfte hatten noch geschlossen.
In gemütlichem Schlenderschritt bewegte sich Ganclar die
Straße entlang zur Treppe. Er pfiff eine Melodie vor sich hin.
Erst nach einigem Nachdenken erinnerte er sich: „Entfliehet,
verschwindet, entweichet ihr Sorgen“, Bachs Schäferkantate.
Frohgemut betrat Ganclar den Platz, der völlig verlassen war.
Mitten auf dem Pflaster hockten ein paar Dutzend hungriger Tauben und
suchten nach Körnern.
Schon von weitem erkannte Ganclar den König der Treppe in
seinem Schlafsack. Giorgio, der bestenfalls den Titel eines Königs
der Schnorrer verdiente, hatte am vergangenen Abend eine Leistung der
Extraklasse geboten. Ohne auch nur einen Soli in der Tasche zu haben,
hatte er es geschafft, sich
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