PR2604-Die Stunde der Auguren
Wie üblich, schien es allen Anwesenden direkt in die Augen zu sehen. Neben Ybarri und Bull saßen Vashari Ollaron und von Strattkowitz.
»Die Schiffe der Invasoren«, sagte LAOTSE, »sind hoch über der Mars-Bahn materialisiert und halten nun auf Terra und Luna zu. Art und Weise ihrer überlichtschnellen Fortbewegung konnten bislang wegen der massiven raumzeitlichen Irritationen nicht ermittelt werden. Auf Anrufe haben die Invasoren bislang nicht reagiert.«
Das asiatisch anmutende Gesicht verblasste; die Holosäule dehnte sich zu einer etwa zwei Meter durchmessenden Sphäre aus und zeigte eines der fremden Schiffe.
Das Raumschiff ähnelte einem ins Riesenhafte vergrößerten Nagel. Die ferne Sonne spiegelte sich in dem mattgrauen Material seiner Hülle. Der Hauptteil des Schiffes – der Stift des Raumnagels – wurde in einem unregelmäßigen Muster von organisch wirkenden, in einem tiefen Goldton glühenden Strängen wie von Venen überzogen.
LAOTSE blendete einige Datenkolumnen ein, die über bislang festgestellte Größen unterrichteten. Demnach brachten es die Stifte der Nagelschiffe auf knapp über 2600 Meter. Dieser Hauptkörper wies einen viereckigen Grundriss auf, die Kantenlänge betrug 200 Meter.
Das Heck des Schiffes – der Nagelkopf – war kuppelförmig und durchmaß 500 Meter bei einer maximalen Höhe von 150 Metern.
Eine Entsprechung zu einer Nagelspitze hatten die Raumfahrzeuge allerdings nicht. Der Hauptkörper verzweigte sich in den letzten zweihundert Metern seines Bugs zu einem immer feineren Geflecht von Streben, Stangen oder Tentakeln. Das Netzwerk war am Ende von einer derartigen Finesse, dass es in den Augen geradezu flimmerte.
LAOTSE musste registriert haben, dass sich der Blick der Anwesenden auf dieses Geflecht gerichtet hatte, und sagte: »Die Bugkonstruktion sendet die verschiedensten Energieformen aus. Die Emissionen dienen möglicherweise der Ortung oder der Navigation des Schiffes. Eine Antriebsfunktion ist eher unwahrscheinlich. Möglicherweise steht die ausgestrahlte Energie auch mit dem Schutzschirm in Verbindung. Er ist paratronartig mit bislang unbekannten Komponenten, möglicherweise im Dakkar- oder Sextadimbereich – also pedogepolter Natur.«
»Ein Energieorgan«, murmelte von Strattkowitz.
Die Schiffe waren in eine blassblau schimmernde Energieblase gehüllt.
»Immerhin sind es nur drei Raumschiffe – groß, aber nicht sehr voluminös. Muss eine sehr kleine Invasionsstreitmacht sein«, sagte Ybarri.
Bull lächelte – ein wenig nachsichtig, wie ihr schien. »Ich habe schon kleinere Schiffe größeren Schaden anrichten sehen, als mir denkbar schien.«
Die Reisegeschwindigkeit war mit zwei Prozent der Lichtgeschwindigkeit eher moderat.
»Man scheint es nicht eilig zu haben«, kommentierte von Strattkowitz.
»Wozu auch?«, brummte Bull. »Wir laufen ja nicht weg.«
Reden am Klein-Goshun-See
Routh hatte den Tag mit Belanglosigkeiten verbracht. Er hatte einmal beim Sender SIN-TC angerufen und mitgeteilt, dass er einer größeren Sache auf der Spur sei. Mit Phaemonoe hatte er nicht sprechen können. Ihr Aufenthaltsort war unbekannt.
Er ertappte sich dabei, wie er sich um sie sorgte.
Einmal war er kurz zu seiner Nachbarin gegangen. Inken war in einer geradezu aufgekratzten Stimmung. Sie saß vor dem Trivid und verfolgte eine Pressekonferenz.
Wie es schien, waren nun auch noch fremde Raumschiffe im Solsystem aufgetaucht. »Vielleicht sollte ich mich freiwillig zum Dienst melden«, überlegte Inken. »Vielleicht wird jetzt jeder gebraucht.«
Er hatte kurz genickt, aber dieses Vorhaben nicht weiter kommentiert.
Die folgende Nacht schlief er unruhig. Immerhin ließen ihn die toten Kraniche in Ruhe.
Der Morgen kam, der Mittag, der Nachmittag. Er brach kurz nach 15 Uhr auf.
Der Klein-Goshun-See hatte einen grob birnenförmigen Grundriss. In seiner Nord-Süd-Ausdehnung maß er mit acht Kilometern deutlich weniger als der Goshun-See im Nordosten der Stadt, aber mit zwölf Kilometern in West-Ost-Richtung war er immer noch ein beachtliches Gewässer und ein beliebtes Ausflugsziel.
Routh bestieg eine Duettkabine an der Fomalhaut Freeway. Natürlich hatte er die Zweimann-Fahrgastzelle für sich. Aber selbst in den Mehrpersonenzonen der Schwebebahn wäre er zu diesem Zeitpunkt allein gewesen.
In Notzeiten wuchsen sowohl die Beharrungskräfte als auch der Fluchtimpuls. Die einen suchten Geborgenheit im Vertrauten, die anderen flohen. Um zu fliehen, musste man
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