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Price, Richard

Price, Richard

Titel: Price, Richard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clockers
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konnte. Arm, aber stolz - Strike bewunderte den Geist, aber hasste die Treppe.
    Herman
Brown war neunzig Jahre alt und der am saubersten gekleidete Mensch, den
Strike je kennengelernt hatte. Stets trug er gestärkte weiße Hemden, und wenn
sein Anzug grau war, dann waren Socken und Schlips kastanienbraun. Er besaß ein
Dutzend wunderschöner altmodischer Hüte in weichen kräftigen Farben - Perlgrau,
Schokoladenbraun, Holzkohle, Kamel. Aber er brauchte zwanzig Minuten, um sich
von seinem bequemen Sessel zu erheben, von dem er die Straße überblicken
konnte, und jedes Mal, wenn Strike bei ihm vorbeikam, bestand der alte Herman
darauf, aufzustehen, um ihm die Hand zu schütteln, was ziemlich nervend war,
wenn Strike es eilig hatte. Strike hatte Herman erzählt, er sei Collegestudent,
und soweit der alte Kerl das beurteilen konnte, lebte Strike tatsächlich in dem
kleinen, mit einem Sicherheitsschloss verriegelten Zimmer am Ende der Wohnung.
    Strike
mochte Herman; er besaß Würde, er besaß Bücher, und im Abstand von jeweils
einem Meter hingen gerahmte Porträts berühmter schwarzer Bürgerrechtler in
seinem Flur. Das Einzige, worum sich Strike Sorgen machte, war die Tatsache,
dass alle dachten, der alte Mann hätte Geld, wegen der Reinlichkeit seiner
Kleidung und deshalb, weil er dreimal pro Woche zwei Jungs aus der
Nachbarschaff je zehn Dollar dafür bezahlte, dass sie ihn auf die Straße
hinuntertrugen, damit er ein wenig an die Luft kam. Aber er wusste, dass
Herman nichts besaß außer dem, was per Post kam; die Kleidung war seit dreißig
Jahren aus der Mode, und die Zehn-Dollar-Scheine stammten von Strike, der je
nach Laune manchmal mehr Miete bezahlte.
    Als Strike
die lange schmale Wohnung betrat, schlief Herman mit zurückgelehntem Kopf in
seinem Fenstersessel, und sein lippenloser Mund stand offen wie bei einem
Vögelchen, das auf Futter wartete. Er sah tot aus, und der Strahl des
verblassenden Sonnenlichts, der auf seine dürre Brust traf, kam Strike wie ein
Fahrstuhl für seine Seele vor.
    Strike
ging auf Zehenspitzen den glänzenden, aber knarrenden Flur entlang. An seiner
verschlossenen Tür lehnte ein vergilbtes Taschenbuch mit dem Titel
>Cane<; der Schutzumschlag zeigte die Silhouette eines jungen Schwarzen
vor einem Baumwollfeld, das sich auf rätselhafte Weise in die Skyline einer
Stadt verwandelte. Herman hatte schon andere Bücher auf seiner Türschwelle
liegen lassen, was offensichtlich seine Vorstellung davon war, einem jungen
Mann im College zu helfen. Strike schob sich das Buch unter den Arm, flach an
das Päckchen gepresst, und öffnete leise das Schloss an seiner Tür. Er hätte
sich nicht mit einem Schloss abgemüht, aber er traute Hermans Freundin nicht,
einer fünfzig Jahre alten Asiatin, die saubermachte und ihn bekochte. Alles,
was Strike über Asiaten wusste, war, dass sie hart arbeiteten und nicht
lachten, aber er vermutete, dass sie gierig und hinterlistig waren, so wie alle
anderen auch.
    Strikes
Zimmer bestand aus einem schmalen Bett, einem Tisch und einem abgenutzten
Ahornschrank. Unter dem Bett stand ein Safe, und die einzigen Gegenstände in
dem Schrank waren ein Suppenlöffel, eine braune Glasflasche mit einem
italienischen Abführmittel für Babys, eine Schachtel mit Halbliterbeuteln mit
Zippverschluss und eine Balkenwaage, alles zusammen in der unteren Schublade.
    Er setzte
sich für eine Sekunde auf die Kante des kissenlosen Betts, ließ das Buch und
den Stoff auf dem Tisch liegen. Das durch die Wachspapierjalousie einfallende
Licht tauchte das stille und kahle Zimmer in goldene Schatten, und Strike sog
die Leere in sich auf und fand, der Raum war wie eine Einzelzelle. Dreißig
Jahre. Strike packte das halbe Kilo aus und dachte an Victor, erinnerte sich an
einen Tag, als sie vielleicht sechs oder sieben Jahre alt gewesen waren. Sie
waren auf dem Schulhof, alle umkreisten Victor und wechselten sich damit ab,
ihm auf den Rücken zu schlagen. Strike sah die Meute, sah, wie sein Bruder
geärgert wurde, und plötzlich machte er mit, ohne dafür einen besonderen Grund
zu haben, und fühlte dabei, dass er seinen Bruder liebte. Liebe war kein Wort,
an das Strike oft dachte, aber er erinnerte sich an den überraschten Blick auf
Victors Gesicht und an das unbeschreiblich süße Gefühl, das er für seinen
Bruder empfand, kurz bevor er ihm einen Rippenstoß versetzte, und dann an die
angenehmen Gewissensbisse, als er mit ihm nach Hause ging und sie

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