Prime Time
tun, bis ich sterbe.«
»Aber die Unterdrückten müssen sich doch verteidigen können.«
»Siehst du dich so? Bist du eine Unterdrückte?«
Die Antwort kam schnell und hitzig.
»Ja, natürlich.«
»Inwiefern?«
Der Körper des Mädchens zog sich zusammen, sie krümmte sich.
»Warum hast du dir einen Revolver besorgt?«, fragte Annika.
Der Blick, der sie traf, war immer noch klar, aber jetzt voller Angst. Hannah machte den Mund auf, um zu antworten, hielt aber inne. Annika ließ nicht locker.
»Wen wolltest du töten?«
Hannah Perssons Augen füllten sich mit Tränen, die Unterlippe verzog sich, und sie sah plötzlich wieder wie ein Kind aus.
»Niemanden«, flüsterte sie.
»Niemanden? Du hast dir eine Waffe gekauft, aber es gab niemanden, gegen den du sie richten wolltest?«
Die Antwort war sehr leise.
»Nur gegen mich selbst.«
Annika sah sie erstaunt an und verstummte. Das Mädchen weinte, sein Kinn lag auf der Brust, und die Haare hingen auf seine Knie herab. Als das Zittern der Schultern aufgehört hatte, wirkte das Gesicht aufgelöst, unreif und erfahren zugleich.
»Letzten Winter war ich bei einem Fackelzug dabei«, flüsterte sie. »Ein Junge war von einer Gruppe ethnischer Fremder ermordet worden, und wir haben uns an einem Nachmittag beim Bahnhof versammelt, um ihm unsere Sympathie und unseren Respekt zu erweisen.«
Sie setzte sich gerade hin und wischte sich mit einer ungelenken Bewegung ein paar Tränen weg. Dann schweifte ihr Blick ab, und plötzlich hatte sie den Schein der Fackel wieder in den Augen.
»Wir hatten keine Fahnen dabei, keine Banderolen, nur Fackeln und Lichter. Alle nationalen Gruppierungen haben die Demonstration unterstützt und hatten auch ihre Leute dort. Es war alles wirklich gut gemacht, wahnsinnig würdevoll und schön. Wir waren alle zusammen unterwegs, mit den Angehörigen von dem Jungen, und legten Blumen hin und zündeten Kerzen an. Es war irre traurig, ich habe die ganze Zeit geweint, und es war wahnsinnig schön. Kannst du das verstehen?«
Sie sah zu Annika hin, und die Tränen rannen ihr übers Gesicht. »Wir haben einfach gemeinsam um unseren Patrioten getrauert. Alle zusammen. Kannst du dir vorstellen, wie stark das war?«
Annika nickte. Ihr Hals war trocken, sie räusperte sich.
»Ja«, sagte sie, »das kann ich mir vorstellen. Und du wolltest, dass sie das auch für dich machen.«
Das Mädchen nickte wieder, sank in sich zusammen und weinte mit der Leichtigkeit einer Angetrunkenen.
»Woher hast du denn die Waffe?«, fragte Annika nach ein paar Minuten vorsichtig.
»Ich habe sie bei den Soldiers of Fortune bestellt. Es ist ihr Jubiläumsrevolver anlässlich fünfundzwanzig Jahren Freiheitskampf. Obwohl er natürlich umgebaut ist. Das Original war nur zur Zierde.«
»Und wie hast du sie nach Schweden reingekriegt?«
»Ich nicht. Die Post. Global priority mail. Auf der Verpackung stand, es wären CDs drin.«
»Hast du das der Polizei erzählt?«
Sie zögerte, dann nickte sie.
»Ich bin eine Petze«, sagte sie.
»Wieso denn?«, fragte Annika. »Es war doch schließlich die Post. Die können ruhig mal was abkriegen.«
Hannah Persson lachte und wischte sich die Tränen ab.
»Was ist eigentlich da draußen im Schloss passiert?«
Hannah Persson schüttelte verächtlich den Kopf.
»Also«, sagte sie mit der Überlegenheit des Insiders, »es stimmt bei weitem nicht, was in den Zeitungen geschrieben worden ist. Alle waren stockbesoffen und haben sich gestritten, Michelle Carlsson rannte ohne Kleider herum und hat mit diesem Popstar herumgevögelt, die Leute flennten und schlugen sich, nichts davon hat in der Zeitung gestanden.«
»Man schreibt nicht immer alles, was passiert«, meinte Annika leise.
»Warum denn nicht, wenn es doch stimmt?«
»Man denkt an die Würde der Menschen.«
»Aber um die Würde der Patrioten kümmert ihr euch nicht.
Über uns schreibt ihr immer nur Scheiße, sowie ihr die Gelegenheit dazu habt, und lügen tut ihr auch.«
Die Worte waren aus dem Bauch heraus und ohne Aggressivität gesagt. Annika brachte ein Lächeln zustande.
»Dann erzähl doch mal, was die Wahrheit ist, wo du doch alles weißt.«
»Alles?«
»Von Anfang an. Wie ist die Redaktion vom ›Sommerschloss‹ eigentlich auf dich gekommen?«
Hannah Persson drehte eine Haarsträhne zwischen Zeigefinger und Daumen.
»Sie haben eine Mail an unsere Website geschickt«, sagte sie. »Ich kümmere mich darum, und deshalb habe ich geantwortet. Sie haben
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