Prime Time
Menschen wie du wirken an einem selbstzerstörerischen Prozess mit, den sie nicht einmal erfassen.«
»Wie bist du zu diesen Ansichten gekommen?«, fragte Annika fasziniert.
Sie zuckte mit den Schultern, war wieder ganz der missmutige Teenager.
»Ich habe einen Kopf zum Denken, auch wenn das keiner glauben will«, sagte sie. »Ich denke selbst, das sollte man zwar eigentlich in der beschissenen Schule lernen, aber wenn man es dann tut, werden plötzlich alle wütend. Wir sollen unsere eigenen Schlüsse ziehen, aber nur solange sie identisch mit denen aller anderen sind.«
»Aber warum ausgerechnet die Neonazis?«
»Da war so eine Überlebende«, sagte sie mit leiser piepsiger Stimme, ging zur Längsseite des Raumes und ließ sich auf eine Matratze fallen.
»Die Tante kam und erzählte und zeigte Schwarzweißfotos aus den Konzentrationslagern, und die waren natürlich furchtbar. Alle Mädchen haben geweint, aber ich nicht, denn irgendwie war das alles so unklar. Ich habe auch nie begriffen, wie die Frau selbst in diese Geschichte gehörte.
Dann sollte es eine Podiumsdiskussion geben, und die war superlangweilig, bis irgendwelche Patrioten vorne anfingen, ein paar von ihren Fakten in Frage zu stellen.«
Hannah setzte sich mit dem Rücken an die Wand, zog die Füße an, schlug die Arme um die Beine und legte ihr Kinn auf die Knie.
»Das Ganze nannte sich die Demokratiewoche in der Schule, und wir sollten uns die Überlebenden anhören, um was zu lernen, aber als die Patrioten anfingen, Fragen zu stellen, hat der Rektor die Diskussion einfach abgebrochen und sie rausgeschmissen. Was ist denn das für eine Demokratie?«
Das Mädchen schaukelte auf der Matratze hin und her.
»Und weißt du was? Dann haben sie im
Katrineholms-Kurier
geschrieben, dass die Patrioten die Demokratiewoche durch einen Aufmarsch gestört hätten, und das stimmte überhaupt nicht! Die Zeitung hat gelogen! Ich war dabei, es gab keinen Aufmarsch, die Patrioten wollten einfach nur diskutieren, durften aber nicht!«
Ihre Augen waren weit aufgerissen und voll treuherziger Empörung.
»Waren die … Patrioten denn auch auf der Schule?«
»Das war eine öffentliche Veranstaltung in der Aula, jede Menge Leute waren da.«
Annika legte das zutiefst philosophische Buch ins Regal zurück und holte »Ragnarök, Sturm 33. Unser Vaterland und seine Verteidigung« heraus.
»Liest du viel?«, fragte sie.
»Sehr viel. Bücher sind nur so teuer. Und die gibt es auch nicht als Taschenbuch.«
Hannah Persson grinste ein wenig entschuldigend, das wilde Tier war verschwunden.
»Du hast mir auf dem Parkplatz eine Frage gestellt«, sagte Annika wieder. Ihre Hand zitterte ein wenig, aber sie zögerte nicht. Sie hatte sich entschieden.
Die Augen der jungen Frau glänzten.
»Ich weiß«, sagte sie.
»Ich habe meinen Freund erschlagen«, sagte Annika. »Mit einer Eisenstange. Er hat den Halt verloren und ist in einen Hochofen gestürzt.«
»Warum hast du das gemacht?«, fragte Hannah Persson mit derselben kindlich klaren Stimme wie an der Absperrung auf Yxtaholm. »Weil er sonst mich getötet hätte«, sagte Annika.
»Er oder ich, das war klar.«
Sie schluckte.
»Und eigentlich war es, weil er meine Katze getötet hatte.«
Das Mädchen blinzelte, das Hakenkreuz auf der Wange zuckte. »Was für ein Schwein«, sagte sie. »Er hat deine Katze getötet?«
»Hat ihr den Bauch aufgeschlitzt. Sie hieß Whiskas.«
»Aber warum denn?«
Jetzt war Hannah Persson verstört, ihre Stimme schwankte.
»Weil sie sich an seinem Bein gerieben hat. Oder weil ich das Tier liebte. Oder nur weil es im Weg war, ich weiß es nicht. Sven brauchte keinen Grund, um gewalttätig zu werden. Er wollte einfach nur Macht über andere haben. Und wenn er sie nicht bekam, hat er sie sich genommen.«
Das Mädchen nickte.
»Das machen sie immer in der tollen Demokratie, die Schwachen unterdrücken. Wie hast du dich danach gefühlt?«
Annika versuchte, ruhig zu atmen.
»Zunächst einmal abwesend, ich habe nicht begriffen, was ich … Dann war ich verzweifelt, monatelang. Ich konnte kaum mehr leben. Nach ungefähr einem Jahr spürte ich nur noch Leere. Die Welt war irgendwie schwarzweiß geworden.
Alles sinnlos.«
»Hast du es jemals bereut?«
Annika starrte die junge Frau mit den klaren Augen an.
Plötzlich war ihr wieder übel wie auf dem Parkplatz bei Yxtaholm.
»Jeden Tag«, sagte sie leise, mit heiserer Stimme. »Seither habe ich es jeden Tag bereut und werde es jeden Tag
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