Prime Time
wirkte auch sonst manchmal müde, aber doch nie so erschöpft.
»Was ist denn passiert?«, fragte sie.
»Nichts«, gab er zurück.
Sie streckte sich ein wenig und ließ den Blick über die Redaktion schweifen. Die Gruppe um das Desk war auch zurück, aber da saß noch jemand Neues, ein kleiner Mann in Freizeitkleidung, der in einer Zeitung blätterte.
»Mein Gott«, sagte sie. »Ist Torstensson hier, an Mittsommer?« Schyman antwortete nicht, sondern starrte in seine Unterlagen, ohne jedoch zu lesen.
»Ich kann nicht selbst darüber bestimmen, wann ich freinehme, um die Überstunden auszugleichen«, sagte Annika langsam. »Jetzt, wo Sjölander in New York ist, muss ich meine Arbeitszeiten mit dem Nachrichtenchef oder dem Redaktionschef absprechen. Wenn Sie wollen, dass ich am Montag arbeite, dann arbeite ich am Montag.«
Es war still.
»Sagen Sie mal«, sagte Annika, »ich habe Probleme mit dem Material zu diesem Mord. Meine beste Freundin ist eine der Verdächtigen. Die Frage ist, ob ich da nicht befangen bin.«
»Wieso?«
Er klang müde und desinteressiert.
Sie zögerte und sah auf ihre Finger hinunter, die mit dem Saum des Pullovers spielten.
»Werde ich über diese Sache wirklich objektiv berichten können? Was ist, wenn meine Freundin es wirklich war? Was mache ich dann?«
Annika sah Schyman in die Augen.
»Zwei meiner Angestellten stehen unter Verdacht«, sagte der Redaktionsleiter resigniert. »Ich kann nicht auf noch einen Mitarbeiter verzichten.«
Anders Schyman setzte sich auf.
»Ich habe auch alte Bekannte im Kreis der Verdächtigen«, sagte er. »Karin Bellhorn. Wir haben kurze Zeit zusammen in der Gesellschaftsredaktion des Schwedischen Fernsehens gearbeitet.«
Sie hob die Augenbrauen, war Schyman so alt?
»Und wie war sie?«
Der Redaktionsleiter lehnte sich schwerfällig zurück und sah in sein Bücherregal.
»Die hatte Ahnung«, sagte er. »Umtriebig. Und eine gehörige Portion Scheinwerfersucht.«
Annika blinzelte erstaunt.
»Was?«
»Scheinwerfersucht. Abhängigkeit von den Kameras. Ich hatte das selbst einmal eine Zeit lang, aber es verliert sich langsam.«
Er klopfte nachdenklich mit einem Stift gegen die Kante des Schreibtischs.
»Es ist ziemlich viel über sie geredet worden«, sagte er, »es gab da so eine Geschichte über ihre letzten Tage in der Redaktion. Ich weiß nicht, ob da was dran ist.«
Er betrachtete immer noch das Bücherregal, den Blick nach innen gewandt. Annika wartete schweigend.
»Karin hat einen Liebesbrief verbreitet, den der Moderator an eine Praktikantin in der Redaktion geschrieben hatte.
Damals musste man alle Papierkopien, die man zog, abzeichnen, und Karin war die Einzige, die am Abend zuvor da gewesen war. Am nächsten Morgen lag der Liebesbrief in den Postfächern aller Mitarbeiter. Karin leugnete es stur, aber es kann eigentlich nur sie gewesen sein.«
Annika machte sich ein paar Notizen auf ihrem Block.
»Und was passierte dann mit dem Moderator?«
»Eine weitere Eroberung, mit der er sich brüsten konnte.«
»Und die Praktikantin?«
»Musste noch am selben Tag gehen.«
Annika stand verärgert auf.
»Natürlich«, sagte sie. »Für Frauen gelten eben ganz andere Regeln als für Männer. Und ich glaube nicht ein Wort von dieser Story. Über Frauen, die nach oben kommen, kursieren immer solche dämliche Geschichten.«
»Sie sind ja eine richtige Feministin, was?«, fragte Anders Schyman.
Sie meinte einen Anflug von Hohn herauszuhören.
»Ich habe einfach ein Gehirn«, erwiderte sie.
Nachdem sich die Glastür hinter Annika Bengtzon geschlossen hatte, atmete Anders Schyman auf. Sie würde es tun. Sie würde keine Fragen stellen. Natürlich würde sie die ganze Sache begreifen, aber sie würde niemals tratschen. Das erste Mal an diesem Tag war er zufrieden. Mit Annika Bengtzon hatte er auf das richtige Pferd gesetzt, auch wenn sie Ecken und Kanten hatte.
Er ging zur Glastür und sah hinaus. Hinten am Desk saß Torstensson, mitten im Trubel, aber dennoch einsam. Die Gespräche wurden über seinen Kopf hinweg geführt.
Schyman sah die Worte von den Redakteuren zum Nachtchef und zurück gehen, vom Bildredakteur zum Reporter, vom Korrektor zum Textredakteur, hin und her, wie Wellen im Meer, scheinbar sanft und folgsam, aber doch unbarmherzig.
Mitten im Meer saß der Chefredakteur wie ein Pfahl im Grund, stumm und steif, wie eine andere Materie. Er reagierte weder auf Lachen noch auf ernste Worte und hatte weder in Sachen Adrenalin noch
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