Prime Time
zu schwierigen Diskussionen etwas beizutragen. Manchmal blickte er auf, immer mit demselben verständnislosen Blick. Es war unglaublich, wie ausgeschlossen er war, und Schyman fühlte plötzlich echtes Mitleid.
Vielleicht geht es ja doch, dachte er. Er hat einfach keine Ahnung, das ist alles. Es ist gut, dass er heute Abend mal da draußen sitzt, das ist ein gutes Zeichen. Vielleicht möchte er ja ab jetzt zusammenarbeiten.
Anders Schyman zögerte einen Moment und schloss dann die Glastür ab. Dann ging er zu seinem Schreibtisch, setzte sich und schloss die unterste Schublade auf. Er starrte hinein, sie war fast leer. Nur eine Mappe lag darin, rot und abgegriffen, die Notlösungen, sein kleines Laboratorium für den ethischen und moralischen Guerrillakrieg. Seit Monaten lag die Mappe jetzt da, vielleicht sogar seit Jahren, und wurde wie Milzbrandviren oder Senfgas verwahrt. Das war seine publizistische Waffe. Sie anzuwenden würde riskant oder gar lebensgefährlich sein. Wenn er sie in die Öffentlichkeit entließ, könnte sich der Lieferant genau wie bei biologischen Waffen selbst anstecken.
Ich muss es nicht heute Abend entscheiden, dachte er.
Trotzdem nahm er die Mappe heraus und wog sie in der Hand. Sie war sehr dünn.
Dann ließ er sie auf den Schreibtisch fallen. Das war noch nicht gefährlich, zu einer Gefahr wurde sie erst im Kontakt mit anderen Journalisten. Er zog das Gummiband ab, der Karton klappte auf, und man konnte die Fotokopien sehen. Er ließ die Fingerspitzen über das oberste Blatt gleiten.
Dies waren die Protokolle der Vorstandssitzungen der Zeitung aus den vergangenen drei Jahren. Natürlich waren sie nicht für seine Augen bestimmt. Er hatte keinen Zutritt zum Zimmer der Eigentümerfamilie.
Aber Torstensson. Als Chefredakteur saß er als außerordentliches Mitglied des Vorstands in den Sitzungen.
Er hatte zwar kein Stimmrecht, war aber dabei, um Informationen vermitteln oder an Diskussionen teilnehmen zu können. Deshalb erhielt er eine der sehr wenigen Kopien der Sitzungsprotokolle, und man erwartete natürlich von ihm, dass er sie sicher aufbewahrte. Das hatte er aber nicht getan.
Torstensson steckte sie in einen Ordner, der mit »Vorstandsprotokolle« beschriftet war. Eines Abends hatte Schyman den Ordner entdeckt. Er war schon unterwegs zur Garage, hatte aber plötzlich noch mal pinkeln müssen und war auf die Toilette gegangen, die am nächsten lag. Als er wieder herauskam, hatte er gemerkt, dass er gegenüber dem großen Eckzimmer des Chefredakteurs stand. Ohne zu überlegen, war er hingegangen und hatte die Klinke heruntergedrückt. Nicht abgeschlossen. Er war lautlos in die Dunkelheit getreten und hatte die Tür hinter sich geschlossen.
In der nächsten Stunde war er das ganze Zimmer durchgegangen. Alle Dokumente, Zeitungen, Ordner, Fernsehsender. Im Buchregal hinter dem Schreibtisch fand er den Ordner mit den Protokollen des Vorstands. Ohne lange zu zögern, hatte er sie alle kopiert, zusammen mit einer Reihe anderer Papiere, die er später weggeworfen hatte.
Aber die Protokolle hatte er aufgehoben. Außerdem hatte er es sich von da an zur Gewohnheit gemacht, an den Abenden, an denen er länger blieb, was sehr oft vorkam, mal eben am Büro des Chefredakteurs vorbeizugehen. Er hatte festgestellt, dass die Tür meistens abgeschlossen war, aber nicht immer.
Wenn er hineingelangen konnte, sah er das durch, von dem er meinte, dass er es wissen müsste, und das war das meiste.
Inzwischen hatte er Zugang zu sämtlichen für die Zukunft der Zeitung relevanten Dokumenten.
Bin ich vermessen?, dachte er und blätterte in den Protokollen. Was lässt mich glauben, dass die Verantwortung auf meinen Schultern ruht?
Weil ich es weiß, antwortete er sich. Weil ich es sehe. Ich begreife, was da geschieht, und ziehe, soweit es in meiner Macht steht, die Konsequenzen daraus. Deshalb bin ich hier.
Es ist meine verdammte Schuldigkeit, so zu handeln, wie ich es am besten finde, auch wenn das bedeutet, dass ich die Öffentlichkeit als Waffe einsetze.
Er nahm zwei Protokolle mit umgeknickten Ecken heraus.
Erst die Sache mit dem Immobiliengeschäft. Torstensson hatte auf einer Sitzung vor einem halben Jahr gefragt, ob etwas dagegen sprechen würde, dass er in den Vorstand für die Immobilienfirma der Regierungspartei eintrete. Dem Protokoll zufolge hatten die übrigen Vorstandsmitglieder der Zeitung dagegen nichts einzuwenden. Der Gewerkschaftsvertreter, der nach dem Gesetz als Beisitzer in
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