Prime Time
ging zu ihrem Platz.
Annika nahm sich die Zeitung der Konkurrenz vor. Sie blätterte am Leitartikel und der Kulturseite vorbei bis zu den Seiten sechs und sieben. Da war sein Autorenfoto.
Bosse – ernst, ein paar Jahre jünger als in Wirklichkeit, sah er ihr von der Zeitungsseite in die Augen. Sie erinnerte sich an die Wärme, den Schwindel.
Sie verdrängte das Gefühl, nahm den Hörer und wählte eine Handynummer.
Der Kommissar ging ran.
»Wo waren Sie gestern?«, fragte sie und hörte selbst, wie fordernd sie klang. »Ich habe den ganzen Abend wie verrückt angerufen.«
Knistern und Knacken in der Leitung. Ein entferntes Rauschen. »Ich habe eine Menge zu tun. Was wollen Sie?«
Sie raufte sich die Haare, blätterte in ihren Unterlagen und merkte, dass sie nicht vorbereitet war.
»Die Spurensicherung«, sagte sie. »Sie haben einen ganzen Haufen Fingerabdrücke auf der Mordwaffe gefunden, oder?«
»Das habe ich gestern schon gesagt.«
Sie biss sich auf die Lippe.
»Wie viele?«
»Sie können nicht mit einem bestimmten Täter in Verbindung gebracht werden.«
»Alle? Alle zwölf?«
Ein Moment des Zögerns. Rasseln und Pusten.
»Alle dreizehn, um genau zu sein«, erwiderte er.
Annika riss die Augen auf.
»Die von Michelle auch? Könnte es sein, dass sie sich selbst erschossen hat?«
»Der Gedanke ist uns natürlich auch schon gekommen«, sagte er trocken, »aber es deutet nichts daraufhin. Kein Brief, kein Gerede von Selbstmord. Wir glauben, dass ein anderer den Finger am Abzug hatte.«
»Wer?«
Er lachte, fast bedauernd.
»Sie fragen, ohne nachzudenken.«
Sie schwieg und überflog ihre Notizen.
»Die Waffe«, sagte sie, »was wissen Sie darüber?«
»Das habe ich auch gestern schon gesagt.«
»Ein Riesenungetüm, schwer und verschnörkelt. Antik?«
»Nein. Neu gefertigt.«
»Also eine Kopie. Wovon?«
»Weiß nicht. Ursprünglich war sie nicht tödlich, sondern ist später aufgebohrt worden. Das Mädchen, dem sie gehört, ist nicht besonders mitteilsam.«
»Was sagt sie?«
»Nichts. Wir werden sie morgen noch mal kommen lassen, zur Zeit wird sie überwacht.«
Annika hob die Augenbrauen und schrieb mit.
»Sie nehmen die Neonazitante fest?«
»Genau.«
»Mord?«
»Unerlaubter Waffenbesitz. Machen Sie nicht so eine große Geschichte daraus.«
»Eine Haftstrafe?«
»Glaube ich nicht, aber man weiß ja nie.«
Sie zögerte einen Augenblick, dann fragte sie.
»Es war einer von den zwölf, oder?«
Der Polizist antwortete nicht.
»Also, Anne Snapphane und Gunnar Antonsson waren es nicht«, sagte sie.
»Glauben Sie, ich spiele jetzt zehn kleine Negerlein mit Ihnen?« Die Ironie wurde von der schlechten Leitung gedämpft, aber Annika hatte nicht vor, ihn so einfach davonkommen zu lassen. »Gestern haben Sie gesagt, Sie hätten sich ein gutes Bild davon machen können, was während des Abends und der Nacht passiert ist.«
»Stimmt.«
»Aber einer lügt. Wer?«
»Wenn das so einfach wäre«, sagte er. »Sie lügen alle wegen irgendetwas. So wollte zum Beispiel keiner von ihnen den Revolver angefasst haben. Warum schließen Sie Snapphane und Antonsson aus?«
»Wollen Sie das wirklich wissen, oder machen Sie wieder Witze?« Sie hörte, wie er sich eine Zigarette anzündete, inhalierte und dann seufzte.
»Erzählen Sie«, sagte er und blies den Rauch aus, was in ihrem Ohr wie ein Sturm klang.
»Ich kenne Anne«, sagte Annika. »Sie würde niemals …
und überhaupt. Gunnar Antonsson ist zu … ordentlich.«
»Aha«, sagte der Polizist und verbarg seinen Hohn nicht länger. »Wen können wir Ihrer Meinung nach denn noch von der Liste der Verdächtigen streichen?«
»Die Neonazitante«, sagte Annika. »Sie weiß nicht, wie es ist, jemanden zu töten, wüsste es aber gern.«
»Woher wissen Sie das?«
Jetzt klang er ernst.
»Was kriege ich von Ihnen?«
Der Kommissar inhalierte tief, atmete ins Telefon aus, schien auf und ab zu gehen, noch ein nikotinhungriger Atemzug, er überlegte.
»Sie starb an dem Schuss in den Kopf«, sagte er schließlich.
»Keine weiteren Verletzungen am Körper. Sperma in der Scheide, keine Anzeichen für einen Streit im Regieraum.
Scheidensekret auf der Mordwaffe. Warum glauben Sie, Hannah Persson sei unschuldig?«
Annika erstarrte in ihrem Stuhl, eiskalte Schauer liefen ihr über den Rücken.
»Sagten Sie, Scheidensekret auf der Mordwaffe?«
»Auf dem ganzen Kolben, dem Lauf und dem Abzug. Das kann nicht gleichzeitig geschehen sein, denn das ist rein
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