Prinz Charming
herüberkamen? Sollte sie ihnen alles Gute zur Hochzeit wünschen? Lieber sterben! Sie hatte nicht bedacht, daß sie vermutlich zu den Ballgästen zählten, und nur einen einzigen Gedanken gekannt - die Sorge um ihre Großmutter. Ironischerweise hatte sich Lady Esthers Befinden an diesem Nachmittag tatsächlich gebessert, und Taylor hoffte inständig, der alten Dame wäre eine neue Gnadenfrist vergönnt.
Ein eifriger junger Mann bat sie um einen Tanz. Irgendwie kam er ihr bekannt vor, doch sie konnte sich nicht an seinen
Namen erinnern. Höflich lehnte sie ab. Als er sich entfernte, hörte sie Janes unverkennbares schrilles Gelächter, sah ihre bösartige Miene und eine junge Dame, die zum Ausgang eilte - Lady Catherine, Sir Connans knapp fünfzehnjährige jüngste Tochter.
Offenbar hat die Ehe Janes Charakter nicht gebessert, dachte Taylor, und Catherine ist ihr allerneustes Opfer. Warum nur müssen meine Verwandten so grausam sein?
Was das betraf, glichen sie vielen Mitgliedern der gehobenen englischen Gesellschaftsschicht. Taylor selbst paßte nicht in diese Kreise, das war ihr von Anfang an klargewesen. Vielleicht hatte sie deshalb ihren Kopf in den Wolken getragen und ihre Nase in Groschenromane gesteckt. Ja, sie war eine Träumerin, wie die Großmutter es ihr vorgeworfen hatte, fand das aber gar nicht so schlimm. Oft genug erschien ihr die Realität häßlich und wäre unerträglich gewesen, hätte sie nicht hin und wieder in Tagträume fliehen können.
Sie liebte romantische Geschichten, und bedauerlicherweise waren die einzigen Helden, die sie kannte, jene schneidigen Romanfiguren. Vor allem Daniel Boone und Davy Crockett hatten es ihr angetan. Beide waren längst tot, jedoch immer noch von wunderbaren Legenden umwoben, die Schriftsteller und Leser begeisterten. Aber Lady Esther wollte aus ihrer Enkelin eine Realistin machen, nur weil sie glaubte, es gäbe keine Helden mehr.
Während Lady Catherine zur Treppe rannte, stieß sie Taylor in ihrer Verzweiflung beinahe um.
»Beruhigen Sie sich doch, Catherine!« bat Taylor und hielt das unglückliche Mädchen fest.
»Bitte, lassen Sie mich vorbei!« Tränen rannen über Catherines Gesicht.
»Hören Sie zu weinen auf!« befahl Taylor. »Sie müssen hierbleiben. Wenn Sie jetzt gehen, wird es eine Weile dauern, bis Sie sich wieder in der Öffentlichkeit zeigen können. Sie dürfen sich nicht von Jane unterkriegen lassen.«
»Oh, Sie wissen ja nicht, was geschehen ist!« jammerte Catherine. »Sie sagte - sie erzählt allen, ich ...«
»Dieses böse Gerede spielt keine Rolle. Wenn Sie Jane und ihre Klatschgeschichten einfach ignorieren, wird ihr niemand glauben.«
Catherine zog ihr Taschentuch aus dem Ärmel und wischte sich das Gesicht ab. »Womit habe ich einen so gnadenlosen Angriff verdient?« wisperte sie.
»Sie sind jung und hübsch, nur deshalb hat Jane es auf sie abgesehen. Doch das werden Sie überleben, auch mir ist es gelungen. Wahrscheinlich hält Jane bereits nach jemand anderem Ausschau, den sie ins Unglück stürzen kann. Was für ein Ekel sie ist, nicht wahr?«
Catherine brachte ein schwaches Lächeln zustande. »O ja, Lady Taylor, Sie haben recht. Sie hätten hören müssen, was sie vorhin über Sie sagte. Daß die Saphire, die Sie tragen, ihr gehören.«
»Tätsächlich?«
»Sie behauptet, Lady Esther sei senil geworden ...«
Hastig fiel Taylor dem Mädchen ins Wort. »Es interessiert mich nicht, welche Lügen Jane über meine liebe Großmutter verbreitet.«
Vorsichtig spähte Catherine über Taylors Schulter. »Jetzt beobachtet sie uns«, wisperte sie.
Aber Taylor drehte sich nicht um. Nur noch eine kleine Weile, dachte sie, dann kann ich diesen gräßlichen Ort verlassen. »Catherine, würden Sie mir einen großen Gefallen tun?«
»Alles, was in meiner Macht steht«, versprach Catherine, ohne zu zögern.
»Tragen Sie meine Saphire.« »Wie, bitte?«
Taylor öffnete die Schließe ihrer Halskette im Nacken, dann nahm sie die Ohrgehänge ab.
Verblüfft starrte Catherine sie an. »Das meinen Sie doch nicht ernst, Lady Taylor! Dieser Schmuck muß ein Vermögen gekostet haben. Wenn Jane mich damit sieht, bekommt sie einen Schreikrampf.«
»Ja, sie wird sich ganz furchtbar aufregen, nicht wahr?« fragte Taylor gedehnt und lächelte.
Da brach Catherine in fröhliches Gelächter aus, das durch den ganzen Raum hallte, und auf einmal fühlte sich Taylor viel besser. Sie half dem Mädchen, die Juwelen anzulegen. »Lassen Sie sich
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