Prinz Rajin - Der Verdammte
Und im Augenblick wollte er es nicht auf eine Kraftprobe ankommen lassen. Tatsache war, dass den Drachen irgendetwas über der Stadt hielt. Vielleicht spürte er den sich verflüchtigenden Resten von Liishos Seele nach und wollte noch einmal die Ahnung seines Geistes atmen.
Der grüne Jademond war als drittes Glied in der allnächtlichen Mondenkette emporgestiegen, als Rajin den aufgebahrten Liisho aufsuchte. Er hatte sich davor gefürchtet, seinem toten Mentor zu sehen, aber gleichzeitig hatte ihn ein starker innerer Zwang hergetrieben. Als er auf Liisho zutrat, tobten in dem jungen Prinzen die widerstrebendsten Empfindungen. Er fühlte sich verloren und mit Mächten konfrontiert, denen zu begegnen er sich ohne Liishos Unterstützung kaum zutraute. Aber ein Teil von ihm fühlte sich auch von der steten Bevormundung Liishos befreit.
Ein Arzt aus dem Gefolge des Fürsten war bei Liisho. Sein Name war Angrhoo, und die Qualität seiner ärztlichen Kunst hatte ihm einen Ruf verschafft, der weit über das Südflussland und die Stadt Sukara hinausreichte.
„Es tut mir leid, dass ich nichts für diesen Mann tun konnte“, sagte er.
„Ich weiß, dass Ihr alles versucht habt, um ihn wieder ins Leben zu holen“, erwiderte Rajin.
„Der Unsichtbare Gott möge seiner Seele gnädig sein und ihm die Sünden vergeben, die er während seines langen Lebens begangen hat.“
„Diese Sünden werden gewiss durch seine guten Taten aufgewogen.“
„Das mag sein. Die Kunst eines Arztes hat hier jedenfalls ihre natürliche Grenze. Alles, was nun geschieht, ist Sache eines Priesters.“
„Gewiss.“
Der weiche Schein von Fackeln erhellte das Gesicht des Weisen. Schatten tanzten auf seinen Zügen. Seine Haut war bleich und wirkte wie zerknittertes Pergament. Noch nach seinem Tod schien der Weise gealtert zu sein, und Rajin konnte sich nicht entsinnen, je ein derartig durch die Zeit gezeichnetes Gesicht gesehen zu haben.
Während seines überlangen Lebens hatte die Zeit Liisho kaum etwas anhaben konnte; von einem gewissen Tag an war er nur noch unwesentlich gealtert. Kraft und Beweglichkeit seines Körpers hatten in einem eklatanten Widerspruch zur Zahl der Jahre gestanden, die Liisho schon gelebt hatte. Doch nun, so schien es, hatte die Zeit das nachgeholt, was sie in Jahrzehnten zuvor an ihm versäumt hatte.
Leb wohl, Liisho, dachte Rajin. Es wird schwer werden, aber ich werde alles daran setzen, den Plan zu vollenden, den du geschmiedet hast!
Der Prinz wandte sich herum und schickte sich an, den Raum zu verlassen. Da spürte er plötzlich für einen kurzen Moment etwas, das sich wie ein Splitter aus Liishos kristallklarem Geist anfühlte.
Rajin blieb stehen, drehte sich noch einmal herum. „Liisho?“
Der Meister lag so tot und grausam gealtert da wie zuvor, und so sehr Rajin auch seinen eigenen Geist öffnete, er erhielt keine Antwort.
Der Arzt war noch immer anwesend. Er fand nichts Merkwürdiges an Rajins Verhalten, da er davon überzeugt war, dass es Ausdruck der übergroßen Trauer war, die der Prinz ob des Verlustes eines treuen Gefährten empfand. „Die Priester haben nach der Schlacht alle Hände voll zu tun“, sagte er, „aber es wird gewiss möglich sein, in seinem Fall trotz der Umstände für eine schnelle Beisetzung zu sorgen.“ Für viele Anhänger des Unsichtbaren Gottes war es von Bedeutung, dass die priesterlichen Beerdigungsrituale möglichst rasch durchgeführt wurden.
„Die Beerdigung soll nicht vor morgen Abend stattfinden“, bestimmte Rajin.
Von draußen drang ein durchdringender Schrei Ayyaams herein. Es war in jener Nachtstunde, da der Augenmond im Zenit stand, während sich Blutmond, Meermond und Jademond bereits dem Horizont entgegensenkten. Jenseits des Augenmondes aber leuchtete der Schneemond wie ein riesiges Unheilszeichen am Nachthimmel, so groß wie noch nie und umkränzt von einer schimmernden Korona. Sein helles, weißes Licht war so stark, dass es bereits das sandfarbene Leuchten des Augenmonds verwässerte und dermaßen überstrahlte, dass die charakteristischen an Augen erinnernden dunklen Flecken auf seiner Oberfläche kaum noch zu sehen waren. Der Schneemond war so groß geworden, dass man meinen konnte, er müsste noch in derselben Nacht herabstürzen. Aber die Gebete, die die Priester allabendlich zum Unsichtbaren Gott sandten, um genau dies nicht geschehen zu lassen, schienen dies bisher verhindert zu haben. Vielleicht auch die Beschwörungen im Seereich, die den auf dem
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