Prinzessin Kate
einer solchen Nation zu sein«, schrieb die 19-jährige Monarchin später in ihr Tagebuch. »Die Begeisterung, Zuneigung und Treue waren wirklich bewegend. Ich werde immer an diesen Tag als an den stolzesten Tag meines Lebens zurückdenken.«
322 Kilometer nördlich des Palastes, in der Industriestadt Leeds, las Kates Urururgroßvater, der Anwalt William Middleton, wahrscheinlich beim Frühstück mit seiner jungen Ehefrau Mary in der Lokalzeitung einen Bericht über die Krönung. Das Paar war seit vier Monaten verheiratet und wohnte in einem Reihenhaus am Stadtrand. Am Krönungstag war Mary schon schwanger mit ihrem ältesten Sohn, wusste aber wahrscheinlich noch nichts davon. Ihr Sohn sollte in ganz anderen Verhältnissen aufwachsen als die Harrisons und die Goldsmiths.
Anders als Kates Vorfahren mütterlicherseits hatte William, der 30-jährige Sohn eines Schreiners aus Wakefield, einer Kleinstadt 24 Kilometer südlich von Leeds, etwas gelernt und eine Berufsausbildung genossen. Als Anwalt war er in die Stadt gezogen und hatte jetzt genug Geld, um für eine Familie zu sorgen.
In Leeds lernte er die 27-jährige Mary Ward kennen und verliebte sich in sie. Von seinem sozialen Status her hätte William eigentlich eine bessere Partie machen können – Mary war die Tochter eines Hutmachers am Briggate, der wichtigsten Durchgangsstraße der Stadt –, aber sie war eine junge Frau, die offenbar entschlossen war, im Leben voranzukommen.
Damals war Leeds eine blühende Stadt. Seit dem Beginn der industriellen Revolution war sie enorm gewachsen, die Arbeiter strömten in Fabriken, Mühlen und Werkstätten. Kohle wurde mit Dampfzügen aus den Zechen vom Vorort Middleton ins Stadtzentrum gebracht, und die Straßen waren von Gaslampen beleuchtet. Es gab ein Gericht, ein Gefängnis und eine Bank. Doch hinter den eleganten Fachwerkfassaden von Briggate, einer der ältesten Straßen in Leeds, in der reiche Kaufleute wohnten und große Gasthöfe auf Kundschaft warteten, versteckten sich schmale Gassen und Hinterhöfe mit dicht gedrängten Häuschen und Werkstätten. Es gab keine richtige Kanalisation, und alles war furchtbar schmutzig. Die Cholera grassierte, die Todesrate war hoch. Leichenfledderer plünderten die Friedhöfe und Unruhen waren an der Tagesordnung. Dickens beschrieb es als »einen unglaublich brutalen Ort, einen der hässlichsten, die ich kenne«.
Mary hatte die weniger schönen Ecken von Leeds kennengelernt, doch ihr Ehemann konnte ihr jetzt ein besseres Leben bieten als ihr Vater. Nach ihrer Heirat zogen sie weiter in den Norden, in ein Haus in St. George’s Terrace in den Außenbezirken der Stadt.
Dort erblickte John – Kates Ururgroßvater – am Valentinstag 1839 das Licht der Welt, fast auf den Tag genau ein Jahr, nachdem seine Eltern geheiratet hatten. In den nächsten zehn Jahren bekam das Paar weitere sieben Kinder – Edwin, Anne, Leonard, Arthur, Robert, Charles und Margaret. Alle Kinder besuchten höhere Schulen, eine Seltenheit im viktorianischen England, wo die meisten Menschen kaum lesen und schreiben konnten, doch bei den Kindern eines Anwalts auch keine große Überraschung.
Mit dem Erfolg wuchs auch Williams Wunsch nach einem Haus, das zu seinem neuen gesellschaftlichen Status passte, und so zog er in den reichen Vorort Gledhow im Osten des Dorfes Chapel Allerton, das schnell zu einem beliebten Rückzugsort der Mittelschicht wurde. Gledhow Valley, ein unberührter Waldstreifen mit einem Bach, der in einen See fließt, ist heute Naturschutzgebiet. 1851 war die Familie in Gledhow Grange eingezogen, ein stattliches Haus in der Lidgett Lane, die vom Dorfkern aus nach Norden führte.
Am Ende der Straße stand die prächtige, heute denkmalgeschützte Gledhow Hall aus dem 17. Jahrhundert. Als die Middletons in die Gegend zogen, gehörte das Anwesen einem gewissen Thomas Benyon, 50, dem Besitzer einer Flachsmühle, der 652 Flachsspinner und Leinen-, Drillich- und Segeltuchmacher beschäftigte.
Er und seine Frau Anne, 36, führten ein großes Haus und beschäftigten 13 Hausangestellte. Das Paar hatte die Hall nach der Eheschließung im Jahr 1835 gekauft. Im Laufe der Jahre waren fünf Kinder dazugekommen – Jane, im Jahr 1851 dreizehn Jahre alt, Anne, zwölf, Mary, neun, William, acht und Joseph, sieben –, die etwa im selben Alter waren wie die Kinder der Middletons, und die beiden Familien verband bald eine enge Freundschaft. Sie alle waren am Boden zerstört, als die kleine Mary 1854 an
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