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Privatklinik

Privatklinik

Titel: Privatklinik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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hätten den tiefsten Einblick, denn zu uns kämen die Menschen in ihrer nackten Not. Das ist dumm, Kollege! Wir sehen in den Rachen oder in den Anus, horchen Herz und Lunge ab, drücken am Appendix und klopfen am Thorax, messen Blutdruck und Puls, kümmern uns um entzündete Eierstöcke oder um laufende Nasen. Aber der Mensch? Wo sehen wir ihn? Wo ergreifen wir ihn so nackt und so hilflos, daß man sagen kann: Das alles ist möglich! Das lernt man erst in der Gosse, lieber Kollege. Man muß selbst mit der Stirn im Rinnstein gelegen haben, um zu begreifen, was Leben ist.«
    Der Kreisarzt nickte zustimmend und sah zu Brigitte Linden. Sie nickte zurück. Ja, ich habe ihm heute morgen ein Glas gegeben. Nur ein Glas. Er saß auf der Bettkante und zitterte wie ein Malariakranker. Er konnte nicht mehr gehen. Er hat mich angesehen wie ein Aufgehängter, kurz bevor ihm die Luft abgewürgt wird. »Gitte«, hat er gesagt. »Gitte … hilf mir … Nicht mit Worten! Gib mir ein Glas, nur ein kleines Glas … nur einen Schluck. Du wirst sehen, wie gut es mir tut. Ich brauche nicht viel, nur ein Gläschen … es ist wie bei einer Maschine. Gitte … ein paar Tröpfchen Öl, und es läuft und läuft, lautlos, gut und ohne Beanstandungen.«
    Da war sie gegangen, hatte ein hohes Glas vollgegossen und es ihm gegeben. Mit unbewegtem Gesicht hatte er es ausgetrunken, mit beiden Händen mußte er es festhalten, weil er zu sehr zitterte, aber schon nach dem zweiten Schluck wurde er ruhig, der Atem ging gleichmäßiger, und als er das Glas geleert hatte, sprang er auf, mit glänzenden, jungenhaften Augen, küßte Brigitte auf die Stirn und rief: »Wie der Schnee leuchtet! Gitte, wir sollten Urlaub machen! Nach Cortina oder Davos. Ich habe richtig Lust, wieder eine Abfahrtspiste hinabzusausen.«
    Die Fahrt zu Schloß Bornfeld verlief in angeregtem Gespräch. Erst als die Stallungen auftauchten, das im Schnee wie von Zuckerbäckerhand geformt aufragende Schloß, die schweigsamen Wälder, der zugefrorene Teich mit dem verwaisten Schwanenhaus, wurde Dr. Linden schweigsam und lehnte sich in die Polster zurück.
    »Sie glauben, daß es Sinn hat?« fragte er plötzlich. Der Kreisarzt zuckte zusammen.
    »Sie müssen auch daran glauben, Herr Kollege.«
    »Ich habe über zehn Jahre mit Trinkern zu tun gehabt. Ich habe sie einweisen lassen in Heilanstalten, ich habe ihnen herrliche Vorträge gehalten, ich habe ihnen in meiner eigenen Klinik Verekelungsmittel gegeben und habe dabei immer gedacht: Würdest du selbst das Trinken aufgeben? Sie kennen die Antwort, Herr Kollege?«
    »Ja.« Der Kreisarzt legte die Hand auf den Arm Dr. Lindens. »Was zwingt Sie denn, zu trinken?«
    »Es gab einmal einen äußeren Anlaß, der mich zum Exzeß trieb … aber dieser ist nun ausgeräumt. Geblieben ist die Gewohnheit. Sie können einen Hund baden und schampunieren, mit Parfüm bespritzen und einsalben … er wird immer wieder nach Hund riechen. So ist es mit uns. Eine Pflanze kann nur leben, wenn sie Stickstoff aufsaugt … wir brauchen den Alkohol. So werden Süchte zu Lebensgrundlagen.«
    Karin, dachte Dr. Linden, nachdem sie schweigend durch das Tor in den Innenhof des Herrensitzes fuhren. Sie hat in mir das zweite Wesen aufgerissen. Sie mußte eines Tages kommen … wenn es nicht Karin gewesen wäre, hätte sie vielleicht Lotte oder Walburga oder Elfriede geheißen. Einmal stolpert jeder in seinem Leben über sein Schicksal. Wir entgehen uns nicht, wir werden, was wir werden müssen. Eigentlich müßte ich ihr dankbar sein, der schmalhüftigen, geilen, blondmähnigen, heißhäutigen Karin. Sie hat mich innerlich befreit. Nun bin ich vogelfrei. Mein Wesen ist dem Käfig von Moral und Ethik entsprungen. Die Umwelt ist entsetzt. Ich aber kann sagen: Seht, das ist ein Mensch! Der enthemmte Mensch! Das gefährlichste Untier aus der Werkstatt Gottes.
    Der Diakon Hermann Weigel war ein noch junger Mann mit weichen Gesichtszügen und einer ebenso weichen Stimme. Er trat unter dem Säulenvorbau des Herrenhauses hervor, als der Wagen hielt und Dr. Linden als erster ausstieg. Es war um die Mittagszeit, der Innenhof war menschenleer, aus den Ställen hörte man Scharren, Kühe brummten.
    »Ich heiße Sie auf Schloß Bornfeld willkommen!« sagte Diakon Weigel und reichte Dr. Linden beide Hände hin. »Sie werden sich bei uns wohl fühlen.«
    Dr. Linden schwieg. Er sah sich um. Wälder und schneebedeckte Felder, Buschgruppen, der Teich, einige Gatter, die Privatstraße, ein

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