Privatklinik
die Trompete des Jüngsten Gerichtes an seinem Kopf. Mit großer Mühe riß er die Augen auf. Die Facettensonne war erloschen, es war ein trüber Tag, er lag auf einem schwenkbaren Tisch, auf einem rötlichgrauen Wachstuch. Dr. Büdrich stand neben ihm, an den Wänden huschten zwei Schwestern umher. Wallende weiße Hauben, raschelnde, rauschende Gewänder, gedämpfte Stimmen, eine Welt in Watte. Und dann nahm Merckel den Geruch auf … Äther, Alkohol, Sagrotan, weiß der Teufel, was so roch … aber es duftete nach Alkohol, es legte sich auf seine Schleimhäute, es reizte ihn, Durst zu haben, brennenden Durst. Sein Adamsapfel zuckte wild, mit einem Ruck und einem brummenden Ächzen stützte er sich auf den Ellenbogen hoch und sah sich um.
Dr. Büdrich wollte ihn zurücklegen, aber der Pfarrer Merckel drückte den Arm des Arztes zur Seite.
»Lassen Sie das, Doktor! Belügen Sie ihre Kranken von Zimmer eins bis Zimmer hundert … aber nicht mich! Ich lüge selbst so viel, daß es sinnlos wäre, mit mir einen Zweikampf zu beginnen, wer's am besten kann!« Er setzte sich, ließ die stämmigen Beine am Tisch herabbaumeln, legte die Hände in den Schoß und sah zu den umherhuschenden Schwestern hinüber. »Wie Gänse, denen man Pfeffer in den Hintern geblasen hat, sind sie, was, Doktor?« sagte er laut. Seine Stimme dröhnte wieder wie sonntags von der Kanzel. »Ihr Herr Pfarrer ist ein Säufer … das bringt die lieben Schwestern durcheinander. Das fordert zum stillen Gebet heraus. Sehen Sie sich bloß Schwester Leonida an. Oder dort, die gute, alte, verschrumpelte Angelina. Sie sieht mich an wie die fleischliche Sünde, die Gute! Ihr Blut ist erstarrt. Die Hölle hat einen Hauch über ihr reines Herz gezogen.« Er ließ sich von dem hohen Untersuchungstisch herabrutschen, spürte, daß wieder Kraft genug in seinen Beinen war, um frei zu stehen, lachte und winkte den kalkgesichtigen Nonnen zu. »Leberzirrhose!« sagte Pfarrer Merckel laut. »Ein Todesurteil! Nicht wahr, Herr Doktor?«
»Zunächst gehen wir jetzt auf Ihr Zimmer und legen uns hin …«, sagte Dr. Büdrich vorsichtig. Er sah verstohlen auf die Uhr über dem Waschbecken. Der Chef mußte jeden Augenblick kommen; es galt, den Herrn von St. Christophorus so lange hinzuhalten. Pfarrer Merckel schüttelte den mächtigen Bärenschädel.
»Hinlegen! Lieber Doktor Büdrich, wozu? Darf ein Mann wie ich nicht auch einmal umfallen? Gehen Sie an Ihre Arbeit – ich gehe an meine! Ich verspreche Ihnen, daß ich in Zukunft nur in meinen eigenen vier Wänden umfalle und kein Verkehrshindernis bilde.«
»Ich kann es nicht verantworten, Herr Pfarrer …« Dr. Büdrich sah wieder auf die Uhr, verzweifelt, hoffend. Nur der Chef kann ihn festhalten, dachte er. Pfarrer Merckel lächelte breit.
»Jeder Mensch trägt für sich und vor Gott die Verantwortung. Ich verstehe mich ganz gut mit meinem Herrgott, Doktor, auch wenn wir uns nicht einig sind über einen Punkt. Aber dann frage ich: ›Lieber Vater, da alles in deinem Namen geschieht, ist also auch die Erkenntnis des Schnapsbrennens nach deinem Willen. Wie kannst du mich verfluchen, wenn ich eines deiner Werke zu mir nehme?‹ Und dann schweigt er. Ich nehme an, er wendet sich von mir ab mit Grausen – das werde ich sehen, wenn ich einmal vor ihm stehe und mit ihm richten kann wie Hiob. Wir alle sind wie Hiob, Doktor, bewußt oder unbewußt. Niemand ist mehr mit Gott zufrieden.« Merckel strich sich die wallenden weißen Haare aus der Stirn. Der penetrante Geruch nach Äther und Alkohol quälte ihn fürchterlich. »Und jetzt gehe ich! Auf eigene Gefahr, wenn es Ihr ärztliches Gewissen beruhigt. Kommen Sie am Sonntag in die Kirche, Doktor: Ich werde über ›Der Mensch ist schwach‹ predigen. Und ich werde gegen den Alkoholexzeß wettern, gegen die Wohlstandstrinker, gegen die Langeweilesäufer. Nach jeder Predigt wundere ich mich, daß Gott mich gesund von der Kanzel gehen läßt … ich glaube, er liebt mich trotz allem …«
Niemand konnte Pfarrer Merckel daran hindern, das Krankenhaus zu verlassen. Der Chefarzt kam zehn Minuten zu spät, hörte sich den Bericht Dr. Büdrichs an und zuckte mit den Schultern. »Wenn er nicht will, nützen keine Argumente. So etwas stirbt wie die Saurier, aufrecht, der staunenden Nachwelt noch einen Schauer von Größe und Unbegreiflichkeit hinterlassend. Wie lange, meinen Sie nach der Untersuchung, wird es noch gehen?«
Dr. Büdrich hob die Schultern. »Wochen … Monate … das
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