Privatklinik
Betteln um nochmals vierundzwanzig Stunden. Das Vabanquespiel mit der Zukunft.
»Was wollen Sie mir denn erzählen, Herr Kaul?« fragte Dr. Linden mit leichtem Spott in der Stimme. Es fiel ihm erstaunlicherweise schwer, spöttisch zu sein. Ein häßlicher Gedanke bedrückte ihn: Ich werde beschämt von einem Arbeiter. Ich, der Hirnchirurg Dr. Linden, habe nicht die innere Kraft wie dieser kleine Mann aus der grauen Masse des Volkes. Ich besitze das, was man Intelligenz nennt … aber innerlich bin ich morsch. Ich kann ihn mit meinem Wissen zuschütten wie mit einer Lawine, ich kann ihn mit Geist ersticken … aber immer wird er über mir stehen. Der Geheilte über dem Kranken. Noch, mein lieber Kaul, noch! Aber nicht mehr lange. Ich werde ›Oberon‹ reiten und beweisen, daß ich wieder gesund bin!
»Ich will Ihnen gar nichts erzählen, Herr Doktor Linden«, sagte Peter Kaul und sprang von der Futterkiste. »Vielleicht wäre ich gar nicht mitgekommen, wenn ich gewußt hätte, daß ich Sie hier treffe.«
»Ach! Und warum?«
»Um nicht zu erleben, was ich jetzt sehen muß.«
»Und was sehen Sie?«
»Wie ein genialer Mensch gegen sich kämpft, weil er sich nicht schämen will.«
Dr. Linden glitt ebenfalls von der Futterkiste und drehte Kaul ostentativ den Rücken zu. »Ihre Einbildung ist nicht gering, Herr Kaul. Ich habe es nicht nötig, mich mit Ihnen über solche moralischen Hirngespinste zu unterhalten. Guten Tag!«
»Guten Tag, Herr Doktor.«
Kaul verließ widerspruchslos den Pferdestall. Dr. Linden wartete. Er lauschte nach hinten. Die Tür war zugeknarrt, niemand anderer kam herein. Da drehte er sich wieder um, trat ans Fenster und sah, wie Peter Kaul sich zu Diakon Weigel und Dr. Wiggert gesellte. Die beiden Anonymen Alkoholiker waren schon ins Haus gegangen. Jetzt drehten auch die anderen sich um und gingen langsam zum Schloß. Keiner sah zu dem Pferdestall hin, keiner kümmerte sich um ihn, nicht einmal der Diakon, der doch wußte, daß noch jemand im Stall war, blieb zurück und kam zu ihm, um mit ihm zu sprechen. Man ließ ihn allein, man stieß ihn aus, man ließ den Außenseiter unbeachtet zurück.
Dr. Linden legte die Stirn gegen die blinde Fensterscheibe des Stallfensters und schloß die Augen. Er ballte die Fäuste und hieb mit ihnen gegen die weißgetünchte Wand.
»Ich bin ein Mensch!« schrie er gegen die Wand. »Ich bin ein Mensch wie ihr! Ich bin Doktor Konrad Linden. Dozent Doktor Linden. Klinikchef Dr. Linden! Sachverständiger Doktor Linden! Millionär Dr. Linden! Der Mensch Doktor Linden! Der Mensch!«
Erschöpft hielt er mit dem Schreien inne. An die Wand gelehnt, sah er zu ›Oberon‹. Das Pferd war unruhig geworden, die laute menschliche Stimme hatte es erschreckt. Es hatte die Ohren zurückgelegt, den Kopf gedreht und schaute Dr. Linden aus großen, runden, dunklen Augen an. Die hohen Flanken zitterten.
Linden stieß sich von der Wand ab und kam langsam näher.
»Oberon«, sagte er leise. »Morgen reiten wir.«
Das Pferd drehte den Kopf zur Krippe und scharrte unruhig. Dr. Linden klopfte ihm auf die Kruppe, und blitzschnell, ohne vorherige Anzeichen, trat ›Oberon‹ nach hinten aus. Mit einem Sprung konnte sich Linden gerade noch vor dem gegen die Boxenwand donnernden Huf retten.
»Du bist ein Aas, es stimmt!« sagte Dr. Linden tief atmend und sah ›Oberon‹ wieder in die dunklen, starren Augen. »Du bist ein Satan von einem Pferd! Aber ich werde dich reiten! Und wenn ich dich geritten habe, werde ich gesund sein! Du wirst mich heilen, du Teufel!«
Er ging in die Sattelkammer, suchte einen schönen hellen Sattel aus und schleppte ihn zurück zur Box ›Oberons‹. Mit einem Schwung warf er ihn neben dem Pferd in das zerstampfte Stroh. ›Oberon‹ tänzelte etwas zur Seite und beschnüffelte das Sattelzeug. Dann hob er den Vorderhuf und trat darauf. Eine wütende, vernichtende Gebärde.
Dr. Linden lachte rauh. »Ich habe von jeher den Widerstand geliebt«, sagte er. »Ich brauchte immer wieder eine Bestätigung meines Willens. Auch dich werde ich unter meinen Willen zwingen! Morgen, mein Lieber! Morgen! Ich lasse mir doch nicht sagen, daß ich mich schäme …«
In der Jagdhalle von Schloß Bornfeld hielt unterdessen Direktor Bonnemann von der AA seinen Vortrag über sein Schicksal als Trinker. Peter Kaul saß etwas abseits neben Brauereibesitzer Hoppnatz.
»Ich weiß eigentlich gar nicht, was ich hier soll«, sagte der fröhliche, dicke Mann leise und beugte sich
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