Privatklinik
Sonntag versammelten sich die Gäste von Schloß Bornfeld im großen Saal, um einen Vortrag zu hören. Drei Herren von der AA hatten sich angesagt.
»AA?« fragte Ewald Hoppnatz. »Was will denn das Auswärtige Amt von uns?«
»AA ist die Abkürzung der Anonymen Alkoholiker«, sagte Dr. Linden. »Es wird ein interessanter Vortrag werden.«
Zum erstenmal war das Wort Alkohol gefallen. Prof. Dr. Heitzner ging schnell hinaus. Seine Assoziationen ließen ihn wieder Schnaps riechen. Er bat im Untersuchungszimmer um eine Injektion. Die anderen Herren umringten Dr. Linden. Ihre Augen zeigten hektischen Glanz. Aber ihre Haltung war vorbildlich.
»Worin besteht die Aufgabe dieser Herren?« fragte Landgerichtsdirektor von Hammerfels.
»Sie erzählen.« Dr. Linden hob die Schultern. »Sie erzählen ohne Schminke, ohne Scham, ohne Reue, ohne Tünche einfach das, was sie waren, was sie wurden … was wir sind, meine Herren: Trinker! Nur mit dem Unterschied, daß sie zurückgefunden haben.«
»Wir doch auch!« sagte Ewald Hoppnatz leise.
»Wirklich?« Dr. Linden lächelte mokant. »Ich habe Sie beobachtet, Hoppnatz, wie Sie vorgestern an einer Salbe für ein entzündetes Pferdegelenk schnupperten. Die Salbe roch nach Alkohol. Und nur, weil sie schwarz und klebrig war, haben Sie nichts davon gegessen …«
Zwei Stunden später standen sie sich gegenüber.
Sie erkannten sich sofort. Und sie traten aufeinander zu.
»Herr Kaul …«, sagte Dr. Linden leise. »Hier sehe ich Sie wieder …«
»Ja, Herr Doktor … so sehen wir uns wieder.« Peter Kaul gab dem Arzt die Hand. Er spürte, wie sie zitterte, aber noch mehr bebten die Finger Dr. Lindens. »Ich freue mich, mit Ihnen zu sprechen …«
Und Dr. Linden antwortete, aus einer plötzlichen Auflehnung, aus einem unbändigen Stolz heraus: »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen zuhören werde!«
Er wandte sich schroff ab und verließ den Saal. Peter Kaul zögerte einen Augenblick, dann eilte er Dr. Linden nach und erreichte ihn auf dem Innenhof, auf dem Weg zum Pferdestall.
12
»Warum wollen Sie mir ausweichen, Herr Doktor Linden?« fragte Peter Kaul und ging an der Seite des mit gesenktem Kopf verbissen dahineilenden Arztes. »Bitte, seien Sie nicht ungerecht gegen sich selbst. Sie schämen sich …«
Dr. Linden blieb ruckartig stehen. »Bitte, gehen Sie!« sagte er laut und herrisch. »Ich brauche Ihre dummen Zusprüche nicht!«
»Ich will Ihnen nicht zu sprechen, ich möchte mich mit Ihnen über unser Schicksal unterhalten. Glauben Sie mir, ich wußte nicht, daß ich Sie hier antreffe. Ich war wie vor den Kopf geschlagen, als Sie mir plötzlich gegenüberstanden. Ehrlich – ich kann es auch jetzt kaum begreifen.«
Dr. Linden ging weiter. Er stieß die Stalltür auf und betrat die Pferdeboxen. Kaul folgte ihm, und als sich Linden auf die große Futterkiste schwang, setzte er sich daneben, ließ wie er die Beine baumeln und sah zu den Pferden hinüber. Es war warm im Stall, und der Ammoniakgeruch, der die warme Luft durchsetzte, wirkte beruhigend.
»Was wollen Sie eigentlich?« fragte Dr. Linden nach Minuten völliger Schweigsamkeit. »Als ich Sie damals untersuchte – so lange ist das noch gar nicht her –, waren Sie ein verhinderter Selbstmörder. Ein Trinker. Und jetzt wollen Sie mir erzählen, daß Sie geheilt sind! Sie glauben es selbst, was?«
»Ja, natürlich.«
»Wenn ich Ihnen jetzt eine Flasche hinhalte …«
»Ich würde sie Ihnen wegnehmen und dort ins Stroh schütten.«
»Sehr edel!« Dr. Linden lachte heiser. »Sie erwarten doch nicht, daß Ihnen ein Alkoholiker so etwas glaubt?«
»Sie täten es nicht?«
Dr. Linden wandte den Kopf ab und sah aus dem vergitterten, etwas blinden und ungeputzten Fenster. Über den Innenhof kamen Diakon Weigel, die beiden anderen Anonymen Alkoholiker und Nationalökonom Dr. Wiggert. Sie standen im Schnee, diskutierten und benahmen sich wie Vorstandsmitglieder in einer Verschnaufpause zwischen zwei Sitzungen des Aufsichtsrates. Niemand sah Dr. Wiggert an, daß er vier Wochen als Landstreicher herumgezogen war, ehe man ihn in einer Scheune entdeckte, wo er betrunken zwischen Runkelrüben und Heuballen lag.
Dr. Linden blickte zurück zu den Pferden, zu dem Wallach ›Oberon‹, den er noch nicht geritten hatte, weil er sich bis heute noch zu schwach dazu vorkam. Aber morgen würde er ihn aufzäumen. Morgen würde er die Kraft haben, im Sattel zu bleiben. Morgen! Das große, das wichtigste Wort der Trinker. Das verzweifelte
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