Privatklinik
…«
»Was haben wir nicht?« fragte Dr. Linden verblüfft.
»Stalldienst. Das ist eine gute Sache, Doktor. Wir haben hier sechs Reitpferde und neun Kühe, zehn Schweine und siebenundvierzig Hühner. Dazu zwei Hähne. Das letztere betrachte ich als Tierquälerei, denn jede Potenz hat ihre Grenzen.«
»Gewiß«, antwortete Dr. Linden verwirrt.
»Abwechselnd haben fünf Herren von uns Stalldienst. Unter Anleitung des Gutsverwalters und eines Knechts. Glauben Sie, das macht Freude! Ich habe vorher zum Beispiel nie gewußt, daß man einer Kuh vor dem Melken das Euter abwaschen muß. Und eine ferkelnde Sau! Die kann einem vielleicht in Atem halten!«
»Ich bin selbst viel geritten«, sagte Dr. Linden still, in sich gekehrt. »Man darf hier also reiten?«
»Sie dürfen alles, bester Doktor, nur nicht saufen! Und keine Frauen mit aufs Zimmer nehmen. Dafür ist es ein geistlich geleitetes Haus! Aber was sonst Ihr Interesse weckt – genehmigt! Also, gehen wir spazieren?«
Nach dem Morgenkaffee bat Diakon Weigel um eine Unterredung mit Dr. Linden. Sie saßen sich in Weigels Arbeitszimmer gegenüber, einem schlichten Raum, der kraß von der schloßgemäßen Einrichtung der anderen Räume abstach.
»Ich freue mich, daß Sie diese Nacht so tapfer überstanden haben, Herr Dr. Linden«, sagte Diakon Weigel und reichte Linden Zigaretten. »Dreimal ist bisher in sieben Jahren einer unserer Gäste aus dem Fenster gestiegen. Wir haben ihn nicht zurückgeholt … bei uns soll niemand gezwungen werden. Warum sind Sie nicht aus dem Fenster gesprungen?«
Dr. Linden zündete sich eine Zigarette an, inhalierte den Rauch und lehnte sich zurück. Er gab sich Mühe, seine frühere Eleganz wieder anklingen zu lassen, seine Überlegenheit, die Ausstrahlung seines Genies. »Sie wissen von dieser Nacht, Herr Weigel?«
»Ich habe Sie beobachtet. Während Sie am offenen Fenster standen, saß ich gegenüber im Verwalterhaus hinter der Gardine im Dunkeln.«
»Man wird hier also doch kontrolliert?«
»Nur in dieser ersten Nacht. Ab heute beobachtet Sie niemand mehr. Aber sie haben meine Frage noch nicht beantwortet, Herr Doktor Linden. Warum sind Sie nicht gesprungen?«
»Vielleicht schämte ich mich. Ich wollte nicht weniger stark sein als die anderen Herren im Haus.«
Diakon Weigel nickte leicht. »Das war es«, sagte er mit einer plötzlich energischen Stimme. »Ich habe gehört, Sie reiten gern?«
»Ja.«
»Sie werden ab morgen die Pflege von ›Oberon‹ übernehmen. ›Oberon‹ ist ein Rappwallach, der oft störrisch ist. Ein kräftiges, wunderschönes Tier, aber keiner will ihn gern reiten, weil er eigenwillig ist. Ich glaube, Sie und ›Oberon‹ werden Freundschaft schließen … es wird ein Sichzusammenraufen sein!« Diakon Weigel erhob sich: »Wollen Sie, Herr Doktor Linden?«
»Aber natürlich! Mich hat noch kein Pferd abgeworfen! ›Oberon‹ wäre das erste!«
»Dann auf in den Kampf! Im übrigen …« Diakon Weigel senkte etwas den Kopf. »Ich bin immer für Sie da, Doktor. Ich bin nicht Ihr Arzt, sondern Ihr Mitbruder … ich war selbst ein Trinker …«
Zwei Wochen gingen so dahin. Mit Stalldienst, mit Heufahren, mit Ausmisten, mit Melken, Euterwaschen und Schweinefüttern. Die Abende gehörten der Unterhaltung. In der Jagdhalle spielte man Schach oder Billard, Bridge oder Mensch-ärgere-dich-nicht.
Vor allem Ewald Hoppnatz, der Brauereibesitzer, ärgerte sich immer dabei, während Landgerichtsdirektor Dr. von Hammerfels in souveräner Ruhe seine Püppchen von Feld zu Feld schob und seine Sechserserie hinnahm wie eine Selbstverständlichkeit. Auch Vorträge wurden abends abgehalten. Dr. Wiggert referierte über die Wirtschaftsprobleme im Pantschab, Prof. Dr. Heitzner berichtete von den anthropologischen Eigenheiten der Lößbauern in Mittelchina. Alles war sehr geistvoll, sehr kultiviert, sehr distinguiert. Ein Tenor gab einen Lieder- und Arienabend, und es stellte sich heraus, daß der Sänger einen weltbekannten Namen hatte und hier unter einem Pseudonym lebte, oder richtiger, unter seinem bürgerlichen Namen. Auch ein Zauberer war zugegen … er zog dem Landgerichtsdirektor Blumen aus den Ohren und dem Brauereibesitzer ein Kaninchen aus der Weste.
Niemand sprach über sein Leiden. Niemand erwähnte das Wort Alkohol. Niemand erzählte aus seinem Leben. Und doch waren ihre Gesichter gezeichnet, lag in ihrem Blick etwas von der Dumpfheit eines Tieres, das sich verkrochen hatte und auf das Ende wartet.
An einem
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