Probeweise: Die Kurzgeschichte zum Roman »Sommerfalle« (German Edition)
genauer. Dann musste er lächeln. Die liebe Becky. Die liebe, vertrauensselige Becky. Sie hatte den Metallbügel nicht ganz hineingeschoben. Er zog das Schloss auseinander und nahm es vom Türriegel. Erst spähte er in den Spind, dann schnupperte er. Und schließlich stellte er den Pokal auf das Bord, auf dem ihr Handy lag. Sicher hatte sie vorgehabt, ihre Sachen einzuschließen. Daher brachte er das Schloss wieder an, schloss es und verstellte die Zahlen. Mit einem Zipfel seines Hemdes wischte er den Schweiß vom Schloss ab. Dann fluchte er. Er hatte das Wichtigste vergessen – den Brief.
Er zog an dem Schloss, probierte ein paar zufällige Zahlen aus, zog wieder und drehte es herum. Mit dem scharfen Werkzeug stocherte er an der Unterseite herum, wo sich ein Schlüsselloch für den Generalschlüssel des Hausmeisters befand. Aber es gelang ihm nur, ein paar kleine Kratzer zu hinterlassen. Dann ließ er das Schloss los, so dass es laut gegen die Metalltür schlug.
Du brauchst eine Blechdose, eine Rasierklinge, eine Schere und einen Stift. So hatte das Video begonnen, in dem erklärt worden war, wie man ein Zahlenschloss knackt. Er hatte es bis jetzt noch nicht versucht. Nun wünschte er, er hätte mit der Übergabe des Pokals noch gewartet.
Aber der gute Wille zählte, dachte er. Becky würde sich über das Geschenk freuen.
Während er die Umkleide verließ, strich er mit der Hand über jedes Schloss, so dass diese zu schaukeln begannen und geräuschvoll gegen die Spindtüren schlugen.
»Nenn mich Edward«, übte er. Er starrte sich selbst im Spiegel an, reckte sich ein wenig und drückte die Brust heraus. »Ich bin Edward. Du kennst mich aus der sechsten Klasse bei Mrs. Marks, erinnerst du dich?«
Er schüttelte den Kopf und begann von vorn. Seine ersten Worte, wenn Becky wie Dornröschen erwachte, würden der wichtigste Teil seines ganzen Plans sein. Er probte dieselben Sätze, nur mit tieferer Stimme. Dann verlangsamte er sein Sprechtempo und achtete auf die Bewegungen seiner Lippen, während er mit ihnen jedes Wort formte. Dabei stellte er sich vor, wie Becky sich auf seinen Mund konzentrieren und sehen würde, wie die Liebe sich aus ihm ergoss. Sie sähe die Wahrheit, noch bevor sie sie hörte. Sie würde diese erst sehen, dann hören und schließlich spüren. Sie würde hin zu einer neuen Glückseligkeit erwachen.
Er versuchte es noch einmal. »Becky, ich bin’s. Erinnerst du dich? Aus der Sechsten? Du hattest den Platz am Fenster. Ich war Eddie. Aber ich bin jetzt Edward.«
Sein Herz hämmerte, er begann zu schwitzen. Da stand er, allein zu Hause, vor dem Spiegel übend und war nervöser als je zuvor.
»Ich bin Edward. Also hab keine Angst. Ich liebe dich.«
Nein, es wäre ein Fehler, ihr das schon so früh zu gestehen. Sie musste erst die Tagebücher lesen. Sie würde seine Liebe entdecken, wie sie sich in den wunderbaren Schilderungen offenbarte, die er darin niedergeschrieben hatte. In den Lobeshymnen, in seinen Gedichten, in den Liebesbriefen.
Er schlug sich mit der Faust gegen die Stirn. Denk nach. Mach es richtig.
Letzter Versuch: »Wach auf, Becky. Alles wird gut. Ich bin hier, um dich zu retten. Ich bin es, Edward. Edward Burling.«
Eddie kroch in ein neues Versteck. Dass er nun schon zwei Mädchen beschattete, kam ihm Becky gegenüber wie Untreue vor, aber eines Tages würde sie es verstehen.
Er sah zu Sarahs Fenster hinauf, hinter dem das Licht um genau 22.05 Uhr anging. Sie war so berechenbar wie ihre Eltern. Die saßen noch im Wohnzimmer, wo sie sich vermutlich diese hirnverbrannten Fernsehshows ansahen. Doch bis halb zwölf würde es im ganzen Haus dunkel sein, und um Mitternacht wären alle fest eingeschlafen. Er würde dann noch eine weitere Stunde lang warten, zur Sicherheit. Zum Glück gab es in dieser Familie keine Haustiere und keine Alarmanlage an der Hintertür, die er am Vorabend so leicht hatte öffnen können. Da waren alle schon in der Schule oder zur Arbeit gewesen, und er selbst kam trotz seines kurzen Rundgangs durchs Haus nicht einmal zu spät zum Unterricht.
Damit das klar war, er hegte keinerlei romantische Gefühle für Sarah. Nur Geringschätzung. Gereiztheit, Wut, Verachtung und, ja, auch Eifersucht. Aber müsste Becky das nicht als schmeichelhaft empfinden?
Ein Wagen bog um die Ecke und das Licht der Scheinwerfer strich über Eddies Versteck. Er hockte starr da. Das Auto fuhr davon. Wahrscheinlich war das heute Abend der letzte Wagen in dieser verschlafenen
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