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Projekt Babylon

Titel: Projekt Babylon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Wilhelm
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Bezeichnung äußerst seltsam und betonte sie dementsprechend. »Etwa, dass es keine Schöpfungsgeschichten sind?«
    »Seien Sie doch nicht so biestig«, sagte Peter. »Wir sind doch auch erst am Anfang.«
    »Sie können sich gerne eine anstecken, wenn es Sie beruhigt«, sagte Stefanie. »Aber machen Sie zumindest so lange ein Fenster auf.«
    »Na also.« Patrick stand auf, öffnete eines der Fenster und setzte sich rauchend auf die breite Fensterbank.
    Stefanie fuhr derweil fort: »Während die Urtexte ordentlich sind und religiös oder geschichtlich bedeutsam erscheinen, haben die Graffiti-Texte allesamt einen anderen Tenor. Sie scheinen zwar zum Teil dahingeschmiert, aber sie sind nicht weniger weise.« Stefanie schob einige Blätter vor und deutete auf die Zeilen:

    »Das ist hebräisch«, erklärte sie, »sieht religiös aus, klingt auch wie ein Pijut, ist es aber nicht.«
    »Was wäre denn ein Pijut?«, fragte Patrick vom Fenstersims.
    »Ein Pijut ist eine jüdische Dichtung, wie man sie in der Synagoge verwendet.

    › Nitsavti lefanaw ke navi lifne ha bar,

    namassti lefanaw ketippa bajam, ilem anochi lefanau›. ‹

    Das heißt übersetzt:

    › Ich trat vor ihn wie ein Prophet vor den Berg,

    ich ging in ihm auf wie ein Tropfen im Meer,

    ein Stummer bin ich vor ihm. ‹«

    »Ein biblisches Zitat ist es nicht«, überlegte Peter.
    »Richtig«, sagte Stefanie. »Aber es ist gebildet. Andere Graffiti-Texte stammen sogar aus der Bibel, wie zum Beispiel das › memento, homo, quia pulvis es, et in pulverem reverteris ‹, das Sie gefunden haben; › erinnere dich, Mensch, dass du aus Staub bist, und dich zu Staub zurückwandeln wirst ‹.« Stefanie deutete auf weitere Abschriften aus der Höhle. »Hier ist noch ein gutes Beispiel. Da findet sich zunächst als Urtext eine Passage aus Platons Timaios , ein Teil, der die Schöpfung der Welt betrachtet. Ein echter Klassiker sozusagen, allerdings auf Latein, statt auf Altgriechisch:

    › Haec igitur aeterni dei prospicientia iuxta nativum et umquam futurum deum levem eum et aequiremum indeclivemque et a medietate undique versum aequalem exque perfectis universisque totum perfectumque progenuit. ‹

    So geht es noch ein paar Absätze weiter. Aus dem Stegreif übersetzt lautet das in etwa:

    › Dieser ganze Gedanke des ewig seienden Gottes, über den zukünftig seienden Gott gedacht, ließ ihn zu einem glatten und ebenmäßigen, überallhin von der Mitte aus gleichen und ganzen und vollendeten Körper aus vollendeten Körpern werden.

    Eine Seele aber in seine Mitte setzend durch das Ganze spannte er, und auch von außen den Körper umhüllte er mit ihr.

    Und einen im Kreis einen Kreis drehenden Himmel, den einen einzigen, einsamen stellte er hin, durch Tugend in sich selbst vermögend, sich zu befruchten, und keines anderen bedürftig, bekannt und befreundet zur Genüge mit sich selbst; durch alles dieses glückselig als einen Gott zeugte er ihn.‹

    Ein berühmter Text, etwa zweieinhalbtausend Jahre alt. Die Kugel als vollendeter Körper, dem die Erde und die Planetenlaufbahnen entsprechen.«
    »Knapp tausend Jahre später wurde man für solche ketzerischen Gedanken auf dem Scheiterhaufen verbrannt«, sagte Peter.
    »Ja«, sagte Stefanie. »Sehr eindrucksvoll. Und mit Liebe zum Detail an die Höhlenwand aufgebracht. Und dann kommt einer daher und schmiert einen Graffiti-Text darüber, der nicht weniger intelligent ist. Einer der längsten Graffiti-Texte:

    › Ex quo omnia mihi contemplanti praeclara cetera et mirabilia videbantur.

    Erant autem eae stellae, quas numquam ex hoc loco vidimus

    et eae magnitudines omnium, quas esse numquam suspicati

    sumus, ex quibus erat ea minima quae ultima a caelo citima

    terris luce lucebat aliena; stellarum autem globi terrae magnitudinem facile vincebant.
    lam vero ipsa terra ita mihi parva visa est, ut me imperii

    nostri, quo quasi puntum eius attingimus, paeniterent. ‹

    Das ist ein Teil aus Ciceros De re publica , wenn ich mich richtig erinnere, aus dem Traum Sicipios, etwa fünfhundert Jahre später:

    › Von dort aus schien mir, wie ich es betrachtete, alles Übrige herrlich und wunderbar.

    Es gab dort aber Sterne, die wir niemals von diesem Ort aus gesehen haben, und Größenverhältnisse bei ihnen allen, von denen wir keine Ahnung gehabt haben, von ihnen war der kleinste, der als Letzter vom Himmel als Nächster der Erde in fremdem Licht leuchtete; die Kugeln der Sterne aber übertrafen die Größe der

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