Projekt Ikarus 01 - Schatten und Licht
»Verstehst du mich, Jet?«
»Ja, Sir«, wisperte sie.
»Also, was ist vorhin auf dem Gang passiert?«
»Ich bin ausgerutscht. Ich glaube, ich habe mir den Kopf gestoßen.«
»Schon besser.« Er runzelte die Stirn, schätzte sie schweigend ab mit seinen haselnussbraunen Augen. Schließlich räusperte er sich und wandte sich wieder seinem Computer zu. »Was tust du, um sie in Schach zu halten?«
»Um sie …?«
»Du bist doch ein intelligentes Mädchen. Hat man mir jedenfalls gesagt. Löse das Rätsel, Kleiner Schatten.«
Er meinte die Stimme. Er verstand. Er wusste es!
Ob er auch so eine Stimme hatte?
Sie biss sich auf die Lippen. Dann sagte sie: »Licht. Ich lasse das Licht an. Oder ich setze meine Brille auf. Die Optibrille kann das Licht ganz gut speichern, selbst wenn es ausgeschaltet ist.«
Night nickte. »Eine gute Ablenkung. Weißes Rauschen ist aber besser. Ständiges Reden oder Gespräche im Hintergrund wirken auch.« Er tippte auf seiner Tastatur herum. »Und die beste Technik von allen besteht darin, dein Gehirn ständig zu fordern. Ein beschäftigtes Gehirn kann sich den Luxus nicht leisten, Dingen zuzuhören, die es nicht hören sollte. Du nimmst ab sofort am Unterricht für Fortgeschrittene teil.«
»Ja, Sir«, erwiderte Jet. Ihre Gedanken rasten. Er hatte gesagt, sie solle »sie« in Schach halten. Hörte er mehr als nur eine Stimme? Und wenn ja, was flüsterten sie ihm zu? Doch Jet war nicht dumm, und so verkniff sie sich ihre Neugier und hielt den Mund.
Night war eine Schattenmacht, ein allseits respektierter außermenschlicher Held.
Kein Verrückter.
Zum ersten Mal seit Jahren keimte in ihr so etwas wie Hoffnung auf.
Night klappte sein Laptop zu und sah sie wieder an. Seine Hände lagen verschränkt auf der Tischplatte. »Als dein Mentor habe ich eine … besondere Sichtweise … die andere nicht haben.
Wenn du klug bist, dann behandelst du unsere Treffen und was wir besprechen streng vertraulich. Wenn du klug bist, sprichst du mit niemandem über das, was wir bereden. Noch nicht einmal mit einer vertrauten Zimmergenossin.« Night blickte sie durchdringend an. Sein Gesicht war verdeckt, unlesbar. »Bist du klug, Jet?«
Übersetzung: Kannst du das, was wir besprechen, für dich behalten? Sogar gegenüber Iridium?
Sie begegnete seinem Blick und sagte: »Ich denke schon, Sir.«
»Ausgezeichnet.« Er legte die Fingerspitzen aneinander. »Ich denke, dass du auserwählt bist, Großes zu leisten, Kleiner Schatten. Du verstehst die Macht der Finsternis. Du weißt, wovor sich die Menschen in der Nacht fürchten.«
Sie nickte.
»Je älter du wirst, desto besser wirst du lernen, diese Angst zu nutzen. Sie deine Arbeit tun zu lassen. Schon dein Ruf als Schattenmacht wird deinen Gegnern jeden Gedanken an Kampf austreiben, bevor du auch nur die Hand hebst.«
»Aber Sir«, entgegnete sie demütig. »Ich möchte nicht, dass die Leute Angst vor mir haben.«
Mit einem Lächeln, dünn und ohne jede Heiterkeit, sagte Night: »Das wird sich ändern.«
KAPITEL 20
IRIDIUM
Die Vorstellung, man könne Kinder zu Soldaten formen, die einem großen und edlen Ziel dienen, ist genauso abscheulich wie unwahr. Ebenso unsinnig ist die Erwartung, Kinder müssten wissen, was »Gerechtigkeit« ist oder wie man sie messen kann. Einem normalen Menschen wachsen ja schließlich auch keine Flügel, und er fliegt einfach davon.
Leitartikel mit der Überschrift »Bei den Nazis hat es auch funktioniert«, abgedruckt im New Chicago Century, einer alternativen Tageszeitung, die von 2099 bis 2107 erschien
Iridium saß auf der kalten Bank und lauschte dem Trommeln ihrer Füße gegen den Sockel. Bumm-bumm. Bumm-bumm.
Die Tür zum Büro des Superintendenten blieb verschlossen. Iridium stieß den Atem aus. Der Luftstoß bewegte einige Haare. Ein paar von ihnen schafften es immer irgendwie, sich unter ihrer Schulmütze hervorzustehlen.
Weiter unten hallte der weiß gestrichene Korridor von den fröhlichen Stimmen der Schüler wider. Iridium fühlte sich davon verhöhnt. Es erinnerte sie daran, dass sie bis zum Löschen des Lichts ihre Strafe hier absitzen musste.
Nach einem Jahr voller Nachsitzen, Strafarbeiten und x-mal wiederholten Tests, um »sicherzustellen, dass du das System nicht manipulierst«, war Iridium zu einer Schlussfolgerung gekommen: Die Akademie hatte sie auf dem Kieker.
Das Flüstern der Mitschüler hinter ihrem Rücken und ihre dummen Beleidigungen waren schon schlimm genug. Aber auch die
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