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Projekt Ikarus 01 - Schatten und Licht

Projekt Ikarus 01 - Schatten und Licht

Titel: Projekt Ikarus 01 - Schatten und Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caitlin Kittredge
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ihr mitten ins Gesicht.
    »Jet. Kannst du mich hören?«
    »Ja, Sir«, piepste sie.
    Er fixierte sie. Durchbohrte sie förmlich mit seinem Blick. Und Jet wagte, ihm in die Augen zu schauen. Haselnuss. Sie konzentrierte ihre Gedanken völlig auf dieses Merkmal und schottete sie gegen das dunkle Wispern ab. Definitiv Haselnuss. Sie konnte seine Augen nicht wirklich sehen, aber trotzdem …
    Night nickte. Dann ließ er sie so plötzlich los, als ob er sich die Hände trotz Handschuhen an ihr verbrannt hätte. Er richtete sich auf und sagte: »Gut. Komm rein. Du bist zu spät. Wir waren für ein Uhr verabredet.« Ohne ein weiteres Wort ging er in sein Büro. Sein Umhang, schwärzer als schwarz, bauschte sich auf und umwehte ihn.
    Jet biss sich auf die Lippen und folgte ihm. Als sich die Tür hinter ihr schloss, zuckte sie zusammen.
    Nights Büro, nüchtern, fast spartanisch eingerichtet. Es befand sich nichts darin außer einem Tisch, zwei Stühlen und seinem Laptop. Stahlwände und eine Stahldecke. Auf dem Boden lag ein einfacher schwarzer Teppich. An den Wänden weder Laser- Kunst noch Gemälde; auf dem Schreibtisch keine Holobilder. Nur die Leitsätze der Akademie: DUTY FIRST – DIE PFLICHT ZUERST; SCHÜTZE DIE SCHWACHEN; PROFESSIONELL, HÖFLICH, MACHTVOLL. Nichts, was auch nur das Geringste über ihn preisgegeben hätte.
    Jet nickte innerlich. Sie fand das gut. Persönlichkeit zeigen hieß auch Schwäche zeigen. Und Night war sicher vieles, aber auf keinen Fall schwach.
    »Setz dich.«
    Sein Tonfall ließ keinen Widerspruch zu. In Rekordzeit hatte sie ihren Hintern auf den Stuhl gehievt.
    Night tippte etwas in die Tastatur. Dann knurrte er: »Ausgezeichnete Noten.«
    Jet strahlte.
    »Für eine normale Schule«, schnaubte Night verächtlich. »Nichts weiter als Zahlen. Es wird Zeit, dass du dich mit Dingen beschäftigst, bei denen du wirklich dein Gehirn benutzen musst.«
    Sie verspürte einen Stich und erwiderte: »Ich verwende durchaus mein Gehirn. Ich bin eine sehr gute Schülerin, die schon alle Lehrbücher durchgelesen und alle Aufgaben für dieses Jahr erledigt hat.«
    »Es liegen Welten zwischen einfacher Wiederholung von Informationen und echtem Denken.« Er fixierte sie wütend. »Bist du etwa ein Papagei?«
    Sie schluckte und starrte auf ihre Schuhspitzen. »Nein, Sir.«
    »Bist du sicher? Möchtest du wirklich nichts zum Knabbern?«
    Ein Flüstern: »Nein, Sir.«
    »Dann musst du lernen, ›Danke‹ zu sagen, wenn jemand dir einen Gefallen tut. Ich möchte nicht, dass du dein Talent verschleuderst, Kleiner Schatten. Dein Geist muss rund um die Uhr beschäftigt werden.« Er machte eine Pause und ließ die Stille zwischen ihnen gerinnen, bevor er hinzufügte: »Du weißt doch, was passiert, wenn dein Geist zu still ist, oder?«
    Sie traute sich nicht zu antworten und schüttelte stattdessen einfach den Kopf.
    »Oh, wirklich? Und was ist vorhin auf dem Gang passiert, Jet?«
    »Ich … ich weiß es nicht genau, Sir.«
    »Falsche Antwort.« Das Gift in seiner Stimme jagte ihr Angst ein. Sie versuchte, sich so klein zu machen, als sei sie gar nicht da. Er fauchte: »Was du sagen wolltest ist: ›Ich bin ausgerutscht und mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen, Sir.‹ Na los, sag es!«
    »Ich verstehe nicht.«
    »Natürlich verstehst du es.« Er sprach die Worte ganz leise. Sie hingen über ihr in der Luft wie ein Todesurteil. Jet verkniff sich einen Aufschrei. Mit weicher, tödlicher Stimme sagte Night: »Weil es eine Erklärung dafür ist, warum ich dich mit leerem Blick und zusammengekrümmt wie ein Häufchen Elend vor meiner Bürotür gefunden habe. Du bist mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen. Alles andere würde eine gründliche Untersuchung erfordern. Und das wiederum würde eine Therapie nach sich ziehen, was schlimm wäre. Sehr, sehr schlimm.«
    Ihre Gedanken wanderten wieder zurück in die Zeit, als sie fünf gewesen war. Ein Mann in weißer Uniform hielt sie fest und versuchte, sie zu beruhigen. Er führte sie von dem Schrank und von dem Körper ihrer Mutter weg. Weg von dort, wo ihr Vater versucht hatte, sie zu …
    »Komm schon, Joannie«, hatte der Mann gesagt. »Lass uns gehen, mein Mädchen. Ich hab dich. «
    »Wo ist Papa?«
    »Er … ist weg, zur Therapie«, hatte der Mann in Weiß geantwortet. Trotz seines Lächelns hatte seine Stimme angespannt geklungen. »Er wird dir nicht mehr wehtun. Ich verspreche es.«
    Nights leise Stimme ließ die Erinnerung zersplittern und verwandelte sie zu Staub.

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