Projekt Ikarus 02 - Im Zwielicht
vor ihr. Im Ernst -warum sollten sie? Sie war eine Heldin. Menschen fürchteten ihre Helden doch nicht.
» Wie viele Außermenschliche braucht man, um die Welt zu beherrschen? Und um die Menschheit auszurotten?«
Sie erschauerte, als sie Martin Moores fistelnde Altmännerstimme in ihrem Kopf hörte.
»Freak!«, brüllte die Menge ihr jetzt wie aus einer Kehle entgegen. Die Wolken aus Hass beschmutzten den Himmel weit mehr als der Rauch des Feuers.
»Du, Schattenmädchen«, ertönte die Stimme einer Frau, laut wie durch ein Megaphon.
Jet öffnete die Augen und blickte nach unten. Die Frau, die gerufen hatte, trug ein fröhlich gelbes, einteiliges Kleid und dazu passende gelbe Ohrringe. Sie sah aus wie ein schmelzendes Zitronenbonbon. Das Abzeichen mit der strahlenden Sonne auf rotem Grund über ihrem üppigen Busen wies sie als ein höherrangiges Mitglied der Everyman Society aus. Vielleicht war sie sogar die Ortsvorsitzende. Hinter ihrer Atemmaske aus Schatten verzog Jet das Gesicht zu einer schmerzlichen Grimasse, während sie nach unten ging und dicht vor der Frau in Gelb über dem Boden schwebte. »Mein offizieller Name ist Jet, Ma’am.«
Die Frau spießte sie fast mit ihrem Zeigefinger auf. Jet bemerkte, dass der Fingernagel spitz gefeilt war, sehr lang und in exakt derselben Farbe lackiert wie das Kleid. Sie bemerkte auch, dass der Sprechchor verstummt war. Definitiv die Ortsvorsitzende. Die Frau verkündete: »Das ist deine Schuld!«
Professionell, sagte sich Jet. Höflich. Machtvoll. Die drei Haupteigenschaften eines außermenschlichen Staatsdieners – besonders dann, wenn die Medien jedes einzelne Wort mitschnitten. »Was ist meine Schuld, Ma’am?«
»Das hier!« Die Frau machte eine weit ausholende Geste, die das brennende Gebäude einschloss, den Häuserblock, ganz New Chicago. »Die Welt stürzt ein, weil eure Sippe den normalen, gewöhnlichen Menschen den Krieg erklärt hat!«
»Maam«, erwiderte Jet, ein leises Grollen in der Stimme. »Mir ist bewusst, dass die Dinge aus dem Ruder laufen, aber nicht alle Außermenschlichen verursachen Chaos. Meine Kollegen und ich –«
»Deine Kollegen haben New Chicago zerstört, New York, ganz Mittel-Texas!«, spie die Frau ihr entgegen. »Deine Kollegen haben offiziell bewiesen, dass die Everyman Society die ganze Zeit recht gehabt hat! Ihr Freaks seid eine Gefahr, und man sollte euch alle erschießen wie tollwütige Hunde!«
Die Menge, die das Stichwort sehr wohl als solches erkannte, brüllte erneut: »Freak! Freak! Freak!«
Jet holte tief Luft und bezwang ihren Zorn. »Ich habe mein Leben öfter für Sie und die Bürger dieser Stadt und dieses Landes aufs Spiel gesetzt, als ich zählen kann. Und das Einzige, was Sie tun, ist kritisieren und sich beschweren.«
Das Gesicht der Frau lief rot an vor selbstgerechter Wut. »Wir wollen dich nicht! Scher dich zurück in das Labor, aus dem du gekrochen bist, du dreckiger Schattenfreak!«
dreckig dreckig
»Ich nehme zurück, was ich gesagt habe«, sagte Jet und übertönte die Schattenstimmen. »Sie beschweren sich nicht einfach nur. Sie stacheln die rechtschaffenen Bürger von New Chicago auf und bringen sie dazu, Ihren Hass über uns auszukübeln. Meine Kollegen und ich versuchen wenigstens, jedem zu helfen, der Hilfe braucht, egal, ob Mensch oder außermenschlich. Wie sieht denn Ihre Hilfe aus? Ihre und die von Everyman? Wie oft haben Sie die Welt gerettet?«
Die Kameras surrten. Im Augenwinkel nahm Jet ein junges Mädchen wahr, das sich ihr zögernd nähern wollte, dann jedoch von einem wütenden Everyman beiseitegeschoben wurde. Das Gesicht des Mannes war hochrot und verzerrt, als hätte er einen Herzanfall.
Die Frau in dem schicken gelben Kleid sprudelte hervor: »Du … Du … Wie kannst du es wagen!«
»Ich wage eine Menge«, sagte Jet. »Gehört zum Kostüm. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden. Ich muss versuchen, bei der Rettung ihrer Geschäftsstelle zu helfen.«
Sie kehrte der Frau in Gelb den Rücken zu und gestattete sich ein kleines Lächeln. Hätte sie alle fünf Sinne beisammen, wäre sie wahrscheinlich über sich selbst entsetzt. Gerade hatte sie nämlich einer Bürgerin dieser Stadt eine saftige Abfuhr erteilt – noch dazu einer Everyman – und außerdem vor laufenden Kameras.
Aber zum Teufel damit – es hatte so gut getan!
Die Menge hatte ihren Sprechchor wieder aufgenommen, und ihr »Freak! Freak! Freak!« ertönte immer lauter. Aber die Beleidigung prallte an Jet ab.
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