Projekt Wintermond
Küche, winziges Bad. Bei klarem Wetter konnte sie über die Bucht bis Cove End blicken, wo ihr Elternhaus stand, ein grauweiß gestrichenes Kolonialhaus, das einsam und verlassen dalag. Jennifer war von dort weg und in die kleine Wohnung gezogen, weil sie neu anfangen wollte. In dem großen alten Haus, das sie mit schrecklichen Erinnerungen quälte, konnte sie nicht mehr leben.
Doch ein Neubeginn war ihr nicht gelungen. Die Fesseln der Vergangenheit hielten sie gefangen, und der Albtraum kehrte immer wieder. Was sie auch tat, um die Erinnerungen vergessen zu machen – die Vergangenheit meldete sich hartnäckig zurück. Erinnerungen an das Leben, das sie mit ihrem Vater und ihrer Mutter geteilt hatte.
Und das für immer verloren war.
Von Zeit zu Zeit waren die Albträume besonders schlimm, voller Entsetzen und Schmerz, und wollten einfach nicht loslassen – so wie heute Nacht. Und wie zuvor in solchen Nächten hatte Jennifer auch diesmal den brennenden Wunsch, die Stimme eines anderen Menschen zu hören, der ihr Halt gab und sie spüren ließ, dass sie nicht ganz allein war.
Wieder blickte Jennifer auf die Anzeige der Uhr: 3:06.
Es gab nur einen Menschen, mit dem sie mitten in der Nacht über ihre Verzweiflung sprechen konnte. Jennifer nahm das Telefon, stellte es neben sich aufs Bett und drückte auf die beleuchteten Ziffern. Zehn Kilometer entfernt – in Elmont, Long Island – klingelte es mehrere Male, bevor der Hörer abgenommen wurde. Eine schläfrige Männerstimme meldete sich.
»Hallo…?«
»Ich bin’s.«
»Jennifer? Alles in Ordnung?«
Mark Ryan war sofort hellwach, als er ihre Stimme erkannte. Jennifer spürte seine Besorgnis. »Tut mir Leid, Mark. Ich weiß, es ist schon eine Weile her, aber ich wusste nicht, wen ich um diese Zeit sonst anrufen kann…«
»Schon gut, Jennifer. Ich bin immer für dich da.«
»Tut mir Leid, dass ich dich geweckt habe .«
»Macht nichts. Ich bin gerade erst zu Bett gegangen und hatte noch nicht richtig geschlafen.« Er lachte leise. »Dein Glück. Normalerweise weckt mich nicht einmal ein Erdbeben.« Ein lauter Donnerschlag ließ die Fensterscheiben klirren.
»Ein verdammtes Unwetter, nicht wahr?«, sagte Mark.
»Ja.«
»Hattest du wieder einen Albtraum? Hast du deshalb angerufen, Jennifer?«
»Ja. Es war wieder derselbe Traum. Ich… ich konnte ihn sehen. Er war bei mir im Schlafzimmer. Mark, ich hatte das Gefühl, es wäre Wirklichkeit . und meine Fantasie hat alles noch viel schlimmer gemacht.« Sie verstummte kurz. »Manchmal glaube ich, den Verstand zu verlieren. Ich vermisse sie schrecklich, Mark. Ohne sie fühle ich mich einsam und verloren. Ich dachte immer, mit der Zeit wird es besser, aber so ist es nicht. Es ist jetzt zwei Jahre her, aber manchmal kommt es mir vor, als wäre es erst gestern geschehen.«
Mark hörte ihr zu. »Es ist nicht einfach, Jennifer«, sagte er dann. »Und an Geburtstagen ist es besonders schlimm, vor allem, wenn solch tragische Erinnerungen damit verbunden sind. Du musst dir immer wieder deutlich machen, dass der Mann nie wieder kommt. Niemals. Du musst es dir klar machen, Jennifer, sonst wirst du nie damit fertig.«
Jennifer starrte in die Dunkelheit, lauschte dem Rauschen des strömenden Regens. Auf der anderen Seite der sturmgepeitschten Bucht lag Cove End, eingehüllt von der kalten, schwarzen Nacht. Einst war es ein warmes, freundliches Zuhause gewesen, voller angenehmer Erinnerungen .
»Bist du noch dran, Jennifer?«, fragte Mark.
»Ja.«
»Deine Mutter hätte nicht gewollt, dass du dich an ihrem Geburtstag mit Erinnerungen quälst. Denk nicht mehr an den verdammten Traum. Es ist bloß ein Traum. Leg dich wieder hin. Mach einfach die Augen zu, und versuch zu schlafen. Tust du mir den Gefallen, Jennifer?«
»Ich habe Schlaftabletten genommen, Mark.«
»Wie viele?«
»Zwei.«
»Okay«, sagte Mark. »Meinst du, du kannst schlafen?«
»Ich glaub schon.«
»Was hältst du davon, wenn wir morgen telefonieren und in aller Ruhe reden?«
»Ja… ist ‘ne gute Idee.«
»Dann schlaf jetzt, Jennifer. Versuch es.« Sie hörte ein leises Lachen, als wollte Mark sie auf andere Gedanken bringen. »Wenn ich bei dir wäre, würde ich dich in den Schlaf wiegen.«
»Ich weiß. Danke, Mark. Danke, dass du mir zugehört hast.«
»Wozu hat man Freunde? Wir kennen uns schon eine halbe Ewigkeit, vergiss das nicht. Schlaf jetzt. Ich ruf dich an.« Er hielt kurz inne und fügte hinzu: »Pass auf dich auf, Jennifer.«
Er
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