Projekt Wintermond
Waffe, und Kelso sank schlaff zusammen.
Benommen ging Jennifer auf die Knie und kämpfte gegen die Tränen an. Angst und Wut, Erleichterung und Entsetzen stürmten zugleich auf sie ein. Eine Sekunde später hörte sie Schritte auf der Treppe.
94
Jennifer warf einen Blick über die Schulter. Im Türrahmen stand jemand. War es Mark? Oder die Polizei?
Es war Staves.
Er hielt eine Waffe in einer Hand und einen nassen, schwarzen Plastikbeutel in der anderen. Jennifer hob die Pistole und drückte ab.
Klick.
Das Magazin war leer. Staves grinste höhnisch und starrte auf Kelsos Körper. »Dieses Schicksal werde ich nicht teilen.« Der Agent nahm Jennifer ins Visier und legte den Finger auf den Abzug. »Nehmen Sie es nicht persönlich. Ich muss es tun.«
In der Ferne war die Sirene eines Streifenwagens zu hören. Staves zuckte zusammen. Jennifer fragte sich, ob ihr in letzter Sekunde jemand zu Hilfe kam, ahnte jedoch, dass es zu spät sein würde. Sie schloss die Augen und wartete auf die tödliche Kugel, als oben auf dem Treppenabsatz ein Schatten hinter Staves erschien. Krachende Donnerschläge hallten durch die Dunkelheit. Blitze zuckten über den Himmel. Jennifer erkannte Mark, der sich Staves in geduckter Haltung von hinten näherte. Er war triefnass. Um seine Taille war ein Seil geschlungen. Mit beiden Händen hielt er eine Pistole.
Sein Gesicht war von Wut verzerrt. »Staves!«, brüllte er.
Die nächsten Sekunden erlebte Jennifer wie in Zeitlupe.
Staves duckte sich und wirbelte herum. Doch er kam nicht mehr zum Schuss. Mark war schneller. Die Kugel traf Staves mitten ins Herz. Er war auf der Stelle tot.
95
Es war acht Uhr abends. Das Gewitter hatte sich verzogen, der Regen aufgehört. Der kalte Atlantikwind hatte die Wolken vertrieben. Der Himmel war sternenklar. Jennifer hatte alle Fragen beantwortet, die sie beantworten konnte. Sie hatte Bobby getröstet und der Polizei gesagt, was sie wusste. Als sie einfach nicht mehr konnte, bat sie um eine Pause und ging hinunter zum Steg. Sie hatte das dringende Bedürfnis, allein zu sein.
Jennifer setzte sich auf den Steg. Ein Polizist kam zu ihr und legte ihr eine Decke über die Schultern, damit sie sich nicht verkühlte. Es war eine kalte Nacht. Der Polizist wollte sie zurück ins Haus begleiten, doch Jennifer winkte ab und blieb sitzen. Der Polizist schaute sie unschlüssig an, ging schließlich aber achselzuckend davon.
Eine kühle Brise strich über Jennifers Gesicht. Sie lauschte dem Plätschern des kalten Wassers unter ihren Füßen. Zwei qualvolle Jahre der Angst, der Trauer und Verzweiflung waren zu Ende. Jennifer war so müde und erschöpft wie nie zuvor. Die Schritte, die sich näherten, nahm sie kaum wahr.
»Du wirst dich erkälten.« Mark setzte sich zu ihr auf den Steg.
Jennifer wusste bereits alles, was sich zugetragen hatte. Nachdem Mark in Wasser gestürzt war, als Staves ihm einen Tritt verpasst hatte, waren die Wellen über ihm zusammengeschlagen. Der Schuss, den Staves dann auf ihn abgefeuert hatte, war fehlgegangen. Letztlich hatte das Seil, das Mark an die Leiter fesselte, ihm das Leben gerettet. Mark war aus dem Wasser gestiegen und zum Haus gelaufen, wo Marty auf der Veranda stand, doch Sekunden später hatten Garudas Porsche und zwei Streifenwagen vor dem Haus gehalten – ein Nachbar hatte den Schusswechsel gehört und die Polizei verständigt. Marty hatte die Waffe fallen lassen und ließ sich widerstandslos festnehmen. Mark hatte sich Martys Pistole genommen und war Staves ins Haus gefolgt, wo sich der letzte Akt des Dramas abgespielt hatte.
»Ich muss Garuda einiges erklären. Was ist mir dir? Kommst du zurecht?«
Jennifer wischte sich über die Augen. »Es wird schon wieder.«
»Bobby geht es besser. Er ist zwar noch ziemlich durcheinander, aber das wird schon wieder. Er möchte mit dir sprechen.«
»Ich wollte einen Moment allein sein. Verstehst du das, Mark?«
»Klar.«
Jennifer starrte aufs Wasser.
»Brauchst du Hilfe?«, fragte Mark.
»Nein, vorerst nicht. Was ist mit den Moskajas?«
»Für dich und Bobby interessieren sie sich nicht. Die Polizei hat jetzt die Diskette und wird Anklage erheben. Hoffen wir, dass die Organisation zerschlagen wird. Einfach wird es nicht. Die werden die besten Anwälte aufbieten, um den Kopf aus der Schlinge zu ziehen.«
Jennifer biss sich auf die Lippe und strich eine Strähne aus der Stirn. »Ich wusste, dass mein Vater uns nie etwas zu Leide getan hätte. Er hätte uns niemals
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