Prolokratie: Demokratisch in die Pleite (German Edition)
an jenem 24. September ja nur über Geld abgestimmt und nicht über Menschenleben.
Wohin der demokratische Prozess schlimmstenfalls führen kann, zeigt bekanntlich die deutsche Geschichte. Nachdem Hitler bei den Reichstagswahlen vom fünften März 1933 von 44 Prozent der Deutschen gewählt worden war und sein Koalitionspartner, die »Deutschnationale Volkspartei« 8 Prozent erringen konnte, wurde er formal ganz demokratisch per Parlamentsmehrheit zum Reichskanzler gewählt. Die Folgen sind bekannt.
Zwischen jenem fatalen Demokratieversagen in Berlin 1933 und dem vergleichsweise harmlosen in Wien 2008 liegt ein ganzer Bogen falscher, verantwortungsloser oder auch bloß einfach allzu kostspieliger Parlamentsentscheide in praktisch allen Demokratien. Das spricht gar nicht gegen die Demokratie selbst, wohl aber gegen eine in ihrem Herrschaftsbereich weit verbreitete Annahme, nämlich den eher naiven Glauben daran, dass demokratische Entscheidungen zwangsläufig von besserer inhaltlicher Qualität sein müssen als anders zustande gekommene Entscheidungen. Ihr Vorzug liegt darin, nach allgemeiner Auffassung gut legitimiert zu sein, nicht jedoch darin, deshalb auch zwangsläufig gut zu sein.
Dass der demokratische Prozess nicht zwingend mit hoher inhaltlicher Qualität der Entscheidungsfindung verbunden ist, zeigt schon ein kursorischer Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung demokratischer wie nichtdemokratischer Staaten. Die in den westlichen Demokratien weit verbreitete Idee, wonach Demokratie und Wohlstand untrennbar miteinander verbunden seien, ist empirisch nicht wirklich belegbar.
Indien etwa, gemessen an der Zahl der Einwohner die größte Demokratie der Welt, hatte noch im späten 20. Jahrhundert immense Probleme, den Hunger zu bekämpfen. Die Wirtschaft dümpelte jahrzehntelang kränkelnd dahin. Indien war demokratisch, aber bettelarm, und das über Jahrzehnte. Erst mit dem Beginn der liberalen Reformen in den 1990er Jahren, die dem Land seither einen Boom beschert haben, endete der massenhafte Hunger in Indien.
China hingegen, der traditionelle regionale Konkurrent der Inder, ist bis heute keine Demokratie. Trotzdem hat es jetzt schon fast drei Jahrzehnte lang einen in der Menschheitsgeschichte nahezu einmaligen ökonomischen Aufstieg hinter sich, der einige Hunderte Millionen Menschen aus bitterer Armut in die Komfortzone des bescheidenen Mittelstandes geführt hat.
China ist nicht demokratisch, aber undemokratisch wohlhabend geworden.
Dass Demokratie und Wohlstand einander nicht bedingen, zeigt sich an zahlreichen Fällen außerhalb Europas. Singapur und – früher – Südkorea vereinbarten astronomisch hohe Wachstumsraten mit autoritären Herrschaftsformen, die mit Demokratie im westlichen Sinne ungefähr so viel gemeinsam hatten wie der Konfuzianismus mit der katholischen Glaubenskongregation. Auch Staaten wie Vietnam oder Laos belegen, dass Wachstum Demokratie nicht zur Voraussetzung hat.
Besonders gut zu beobachten ist das auch im Oman, wo der dort amtierende Sultan Qabus ibn Sa’id Al Sa’id zwar mit Demokratie nichts am Hut hat, aber das Land mit vergleichsweise mild-autoritärer Herrschaft nun schon lange derart weise führt, dass der Wohlstand (und die Lebenserwartung) seiner Bürger massiv angestiegen ist. Der sogenannte »arabische Frühling« ist am Oman ziemlich spurlos vorübergezogen, jedenfalls im Vergleich zu Libyen, Ägypten oder Syrien. Auch die Russen durften ja die Erfahrung machen, dass ihre materielle Befindlichkeit in den chaotisch-demokratischen Jahren der Ära von Boris Jelzin wesentlich unkomfortabler war, als unter Vladimir Vladimirowitsch Putin, der nicht gerade für übertrieben demokratische Ambitionen bekannt ist.
Wir sehen, dass der Zusammenhang zwischen Demokratie und Wohlstand wesentlich weniger eng ist, als es aus der Perspektive der westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten der Nachkriegszeit erscheinen mag. Von praktischer Relevanz für die Politik der westlichen Wohlfahrtsstaaten war diese Erkenntnis bislang freilich nicht. Dass es China schaffte, auch ohne Demokratie Wohlstand und Wachstum zu generieren, war kurios, aber für uns hier im Westen weitgehend irrelevant.
Das könnte sich ziemlich bald ändern. Denn je weiter die Finanz- und Wirtschaftskrise voranschreitet, umso mehr wird die Problemlösungskapazität des demokratischen Betriebssystems auf seine Fähigkeit hin getestet werden, derartige Großkrisen zu bewältigen und dem Souverän notfalls auch eher
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