Promenadendeck
dem Bett stehen, hob die Spraydose und besprühte mit vier kurzen, aber kräftigen Strahlen das Gesicht der Schläferin. Ebenso schnell glitt er wieder vor die Tür und begann lautlos zu zählen. Bei zwanzig kehrte er in die Kabine zurück und knipste die Nachttischlampe an. Erika Treibel lag auf dem Rücken im Bett und atmete regelmäßig. Niemand sah ihr an, daß sie soeben mit einem Betäubungsgas besprüht worden war und in der nächsten Stunde nicht aufwachen würde. Wenn sie dann am Morgen aus dem Bett stieg, würde sie zwar ein wenig Kopfschmerzen haben, aber sonst keinerlei Nachwirkungen spüren. Carducci hatte dieses ›K.o.-Gas‹ in Amerika entdeckt und es eine Erfindung des Himmels genannt, eine der größten Entdeckungen nach der Atomspaltung. Es vereinfachte seine Tätigkeit ungemein und verminderte das Risiko fast auf Null.
Carducci wußte genau, was er suchte. Erika Treibel trug den Schlüssel zu dem Juwelierladen immer an einem dünnen goldenen Kettchen um den Hals. Er lag dann zwischen ihren Brüsten, sicher und – nebenbei gesagt – sehr dekorativ. »Hier kann ihn mir niemand stehlen«, hatte sie einmal zu ihrem Chef Heinrich Ried gesagt. »Da kann mir keiner unbemerkt hineinfassen.«
Carducci, der diesen ›Safe‹ zunächst mit Staunen entdeckt hatte, handelte jetzt, auch in dieser Situation, wie ein echter Kavalier. Er deckte Erika Treibel auf, schob den Ausschnitt ihres Nachthemdes etwas auseinander und zog an dem Kettchen. Der Schlüssel glitt aus ihrer Busenfalte zum Hals. Vorsichtig legte Carducci eine Hand unter Erikas Nacken, hob etwas den Kopf an und zog das Kettchen über ihren Kopf. Sorgfältig deckte er sie darauf wieder zu, löschte die Lampe und schlüpfte aus der Kabine.
Wieder sicherte er nach allen Seiten und machte dann die wenigen Schritte zu dem Schmuckladen, der gegenüber lag. Der nächtliche Kontrollgänger, der auf jedem Flur eine Kontrolluhr stellen mußte, war vor einer Viertelstunde vorbeigekommen; es war also unwahrscheinlich, daß in diesen Minuten jemand stören konnte.
Ohne Eile schloß Carducci den Juwelierpavillon auf, holte unter seiner Schlafanzugjacke einen Plastikbeutel mit dem Aufdruck eines Ledergeschäftes in Lima hervor und begann die Fenster leerzuräumen. Das matte Licht der Nachtbeleuchtung genügte vollkommen; es war ihm anfangs sogar noch zu hell erschienen, nutzte ihm aber jetzt doch, als er sich mit einem Spezialwerkzeug, einer Art Schraubenzieher-Dietrich-Spachtelkombination, an den verschiedenen Schubladen zu schaffen machte. Er kniete sich dabei hin und verschwand so auch vor den Blicken eines eventuell auftauchenden späten Gastes, der zu seiner Kabine gehen wollte.
Den Tresor rührte er nicht an. Tresore waren nicht sein Metier; es gab da Spezialisten, die eine Tresortür mit einem Stethoskop abhörten wie einen Brustkorb und das leise Knacken der Zahlenreihe wiedergaben. Damit hielt sich Carducci nicht auf; er räumte bloß ab. Die Millionen lagen ja herum, man mußte nur wissen, wann die richtige Zeit war. Auch die Schubladen leerte er in seinen Plastikbeutel aus, schloß dann hinter sich die Tür ab und war mit wenigen Schritten wieder in Erika Treibels Kabine. Noch einmal deckte er Erika auf, legte ihr die Kette um den Hals, zog das Goldkettchen gerade und schob den Schlüssel zwischen ihre Brüste.
Die Rückkehr in seine Kabine war kein Problem: zwei Schritte nach links. Mit einem tiefen Aufatmen verriegelte er seine Tür, setzte sich aufs Bett und zündete sich eine Zigarette an. Erst jetzt machten sich seine Nerven bemerkbar, wie immer, wenn es vorbei war; aber es waren nur ein paar Augenblicke, bis er sich beruhigte und den Plastikbeutel in der oberen Ablage des Kleiderschrankes verstaute, unter einem weißen Rollkragenpullover und hellgelben Bermudashorts.
Als sei er aufgestanden, um eben mal auf die Toilette zu gehen, legte er sich hin, rollte sich auf die linke Seite, schloß die Augen und schlief bald ein. Ein zufriedener Mensch hat einen gesunden Schlaf. Und Carducci konnte mit sich zufrieden sein; nicht jeder kann in genau neunzehn Minuten ein Millionenvermögen verdienen.
Um halb acht Uhr morgens verließ Erika Treibel ihre Kabine, ein wenig mißmutig, weil ihr Kopf an den Schläfen schmerzte und ihre Beine so merkwürdig schwer waren. Sie hatte am Abend als Gast von Theo Pflugmair, der das schreckliche Erlebnis mit seinem Freund Knut de Jongh durch Alkohol zu verdrängen suchte, drei unbekannte Cocktails getrunken –
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